Vor zwanzig Jahren, Anfang Januar 1996, erregte eine wissenschaftliche Meldung des Europäischen Laboratoriums für Teilchenphysik CERN in Genf weltweites Aufsehen. Einer dort tätigen Arbeitsgruppe unter Leitung des deutschen Physikers Walter Oelert vom deutschen Forschungszentrum in Jülich war es bereits im September des Vorjahres gelungen, erstmals Antimaterie, genauer Antiwasserstoff, herzustellen – allerdings in der bescheidenen Ausbeute von neun Atomen, an denen natürlich keine Versuche unternommen werden konnten.
Das Wasserstoffatom besteht aus einem Proton im Kern und einem Elektron in der Hülle. Die Physiker hatten nun unter geeigneten Bedingungen aus einem Antiproton und einem Positron ein Antiwasserstoffatom herstellen können. Solche Systeme existieren allerdings nur 40 Milliardstel Sekunden. Antimaterie ist in Gegenwart von »normaler« Materie nicht lebensfähig, beim Zusammentreffen beider kommt es zur vollständigen Zerstrahlung. So annihilierte auch der Antiwasserstoff sofort beim Kontakt mit anderer Materie. Völlig isoliert, würde er hingegen unendlich lange »leben«.
Das sensationelle Experiment wurde noch im selben Jahr am Forschungszentrum für Teilchenphysik Fermilab bei Chicago wiederholt und bestätigt. Bereits 1928 hatte der britische Kernphysiker Paul Dirac mit seiner Löchertheorie (eine speziell relativistische Erweiterung der Quantenmechanik) eine Form von Antimaterie, deren atomare Bestandteile aus Antiteilchen bestehen, postuliert und damit die theoretische Grundlage für deren späteren experimentellen Nachweis gegeben.
Normalerweise landen neue wissenschaftliche Erkenntnisse in den einspaltigen Rubriken im Feuilletonteil der Tageszeitungen, wenn nicht gerade ein Mensch auf dem Mond spazieren geht oder es wieder einmal eine heiße Spur vom legendären Bernsteinzimmer gibt. Anders 1996 – am 15. Januar prangte auf der Spiegel-Titelseite in dicken Lettern »Anti-Materie – Erster Vorstoß der Wissenschaft in die Gegenwelt«. Als man Walter Oelert nach dieser marktschreierischen Meldung befragte, relativierte er lapidar: »Was wir geschaffen haben, ist das erste Element im Periodensystem der Antielemente. Wir haben gezeigt, dass es Antiatome wirklich gibt.«
Die Science-Fiction-Phantasie, ja die Sensationsgier oder die Angst vor einer mysteriösen Spiegelwelt waren geweckt. Der Spiegel berichtete, dass sich schon zuvor der Dalai Lama und der Papst bei ihren Besuchen des Forschungszentrums CERN über den Stand der Antimaterie-Forschungen erkundigt hätten. »Materie und Antimaterie, Himmel und Hölle, Christ und Antichrist, so hatte der damalige Oberhirte Wojtyła gemunkelt – ob da vielleicht ein Zusammenhang bestehe?«
Der amerikanische Thriller-Autor Dan Brown verarbeitete diesen uralten Zwist zwischen Kirche und Wissenschaft in seinem Roman »Angels & Demons« (dt. Übersetzung von Axel Merz »Illuminati«), in dem es um den Mord an einem CERN-Forscher und den Diebstahl eines Behälters mit hochgefährlicher Antimaterie geht. Ein kleiner Tropfen davon ist gefährlicher als eine Atombombe. Damit will der Geheimbund »Illuminati« mit einem ultimativen Schlag die verhasste Kirche vernichten.
Die Wissenschaft interessiert sich jedoch weniger für solch spannenden Nervenkitzel in Romanform, sie beschäftigt vielmehr die Frage »Gibt es möglicherweise in unserem Universum »Antiwelten«, Galaxien vielleicht, die aus Antimaterie bestehen? Bisher ist man nicht fündig geworden. Für unser Sonnensystem und dessen »nähere Umgebung« kann dies ausgeschlossen werden, denn das Vorhandensein würde zu gewaltigen Explosionen führen. Unsere Mond-Flugkörper und Mars-Sonden hätten sich jeweils in grellen Lichtblitzen aufgelöst. Selbst wenn weit entfernte Galaxien aus unterschiedlicher »Materialsorte« bestehen würden, müssten wir die bei ihrer Annihilation entstehende Gammastrahlung mit unseren empfindlichen Weltraumlaboratorien messen können.
Dieser bisher negative Befund wirft aber die Frage auf: Wo ist die Antimaterie geblieben? Nach der Urknalltheorie hätten Teilchen und Antiteilchen in nahezu gleicher Menge entstehen müssen, die sich dann aber gegenseitig vernichtet, das heißt in Strahlung umgewandelt hätten. Eine mögliche Ursache für das heutige Fehlen von Antimaterie sehen Physiker in einem geringfügigen Überschuss von »normaler Materie« gegenüber der Antimaterie im Frühstadium des Universums. Wieso aber dieser Überschuss, dem wir schließlich unsere Existenz verdanken? Forscher konnten experimentell nachweisen, dass »die Natur aus einem bisher unbekannten Grund Materie gegenüber Antimaterie bevorzugt«.
Warum aber diese Bevorzugung? Gibt es vielleicht kleinste Unterschiede in den Eigenschaften von Atomen und Antiatomen? Seit zwanzig Jahren versuchen die Wissenschaftler, diese Geheimnisse zu lüften. Wichtigster Schritt dabei ist, die »Lebensdauer« der künstlich erzeugten Antimaterie zu verlängern. 2011 gelang es einem CERN-Team unter Leitung des amerikanischen Physikers Joel Fajans, immerhin 309 Antiwasserstoffatome herzustellen und in einem riesigen Magnetfeld 17 Minuten am Leben zu erhalten. Eine Zeit, die lang genug war, um erste Versuche mit ihnen durchzuführen.
Bei allen wissenschaftlichen Fortschritten in den letzten Jahren bleibt die Antimaterie aber wohl noch eine Zeitlang etwas für Science-Fiction-Fans, zum Beispiel beim Raumschiff »Enterprise«, das mit Antimaterie angetrieben wird und feindliche Raumschiffe mit »Photonentorpedos« vernichtet. Aber Militärs haben längst erkannt, dass in einem einzigen Gramm Antimaterie die Sprengkraft von 20 Kilotonnen TNT steckt. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten müsste das CERN jedoch Milliarden von Jahren Antimaterie produzieren, um eine brauchbare Menge zu erhalten. Obwohl Herstellung und Lagerung noch unlösbare Probleme sind, ist Antimaterie aber längst keine »Physik für Spinner« mehr – Antimaterie ante portas.