Auf welchen Tiefpunkt muss eine Gesellschaft gesunken sein, wenn eine Mehrheit von ihr die offene Hinrichtung eines verletzt und wehrlos auf der Straße liegenden Menschen – sei es auch ein Attentäter – bejubelt und den Schützen als Helden verehrt? Zwar war das Video von der Exekution so eindeutig, dass das Gericht nicht um einen Schuldspruch wegen Totschlags herumkommen konnte, dennoch solidarisierte sich die politische Führung dieser Gesellschaft, Parlamentarier, Minister und der Ministerpräsident, nach anfänglichem Zögern mit dem erst 19-jährigen Soldaten. Sie fordern noch vor Verkündung des Strafmaßes die Amnestierung des Täters, während die Vorsitzende des Militärgerichts Morddrohungen erhält. Was geht in dieser Gesellschaft vor? Und Moshe Zuckermann fragt, »welche Räson ein Staat noch beanspruchen darf, der eine Politik betreibt, die sich in pseudodemokratischem Gestus immer mehr von Impulsen der ›Volksseele‹ leiten lässt«. Einen Teil der Antwort gibt er selbst, wenn er darauf hinweist, dass diese »Volksseele«, »von eben dieser Politik mitgeformt und angeheizt, [sich] zunehmend in alltagsrassistischem und nationalistischem Gedröhn suhlt« (junge Welt, 5.1.2017).
Wie das geschieht, wird uns von der Spitze der Staatsführung seit Jahren vorgeführt, ohne dass von den »unverbrüchlichen Freunden« dieses Staates eine angemessene Reaktion auf die massive Verletzung ihrer pausenlos verkündeten »Werte« erfolgte. Die Wut, mit der das Jerusalemer Kabinett auf die Verurteilung seiner Siedlungspolitik durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen reagierte, und der Hohn, den es über die Rede von John Kerry und seine abgewogenen Vorschläge ausgoss, zeigen den Fiebergrad ihrer Erregung. Aber vor kurzem lieferte Ministerpräsident Netanjahu einen tieferen Einblick in die »Volksseele« als jede Statistik der UNO oder der israelischen Menschenrechtsorganisation Bet’selem über den alltäglichen Krieg in den besetzten Gebieten uns vermitteln kann.
Am 22. September 2016 hielt er vor der UN-Generalversammlung eine Rede, die von der gesamten deutschen Tages- und Wochenpresse mit Schweigen übergangen wurde. Nur konkret pries sie als »ein Meisterstück politischer Redekunst« und druckte sie im vollen Wortlaut in deutscher Übersetzung von Gerd Buurmann ab (Heft 11, 2016, S. 35–38). Netanjahu sprach hier Klartext, verriet, was er schon immer über die Versammlung und die palästinensische Frage dachte und woran er sein Handeln ausrichtet: Ihr könnt mich mal ... Er nahm kein Blatt vor den Mund, die UNO habe »jede schonungslose Bezeichnung verdient«, sie sei »zu einer moralischen Farce verkommen«, der UN-Menschenrechtsrat sei ein »Witz«, die UNESCO ein »Zirkus«. Die 20 Resolutionen, die die Generalversammlung im vergangenen Jahr gegen Israel verabschiedet habe, seien ein »schändliches Tun« und nur ein Zeichen für ihre »obsessive Voreingenommenheit« und »Feindseligkeit gegenüber Israel«, nicht wert, darauf einzugehen. Stattdessen solle man bedenken, dass Israel weltweit führend in der Wiederaufbereitung von Abwasser und eine »globale Wassermacht« sei. »Wenn wir also eine durstige Welt haben, und die haben wir, dann gibt es dagegen keinen besseren Verbündeten als Israel.« Die durstigen palästinensischen Familien in der Westbank und in Gaza gehören offensichtlich nicht zu dieser Welt. Während sie pro Tag und pro Kopf mit 20 bis 70 Liter auskommen müssen, verbrauchen die Siedler nach UNO-Angaben bis zu 320 Liter – Brunnenwasser aus der Westbank, zu dem die Palästinenserinnen keinen Zugang mehr haben. Sie müssen es von Tankwagen kaufen.
Netanjahus Trumpf ist die technologische Innovationskraft der israelischen Industrie: »Verdauen Sie diese Zahl erst einmal. In der Internetsicherheit schlägt sich Israel erfolgreich satte 200mal über seiner Gewichtsklasse … eine globale Internetmacht.« Das öffnet ihm so manche bisher abweisende Tür in Afrika wie in der arabischen Welt und hat bereits zur Änderung der politischen Haltung vieler Staaten geführt. Dass allerdings »Israels diplomatische Beziehungen … gerade nichts weniger als eine Revolution« erleben – »Der Krieg gegen Israel bei den Vereinten Nationen ist zu Ende« –, mag etwas zu großspurig klingen. Doch so breitbeinig kommt Netanjahu daher, wenn er über sein Land, »die einzige liberale Demokratie im Nahen Osten«, und über die USA, die »stärkste und großzügigste Nation der Erde« sowie über »unsere liebste Allianz und unsere tiefste Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika« spricht. Und das ist sein zweiter Trumpf: Er weiß, dass er ohne das Veto im Sicherheitsrat und die Dollar aus Washington die Besatzung nicht aufrechterhalten und die Kübel des Spotts über die UNO in ihrem eigenen Haus nicht entleeren könnte.
Die Arroganz, mit der er über seine Gastgeberin herzog, bestimmt auch den Grundton seiner Behandlung der Palästinenser. Kurz zuvor hatte Präsident Abbas vor der Generalversammlung gesprochen und sie an ihre zahlreichen Resolutionen zur Errichtung eines palästinensischen Staates, an die Völkerrechtswidrigkeit der Besatzung, der Siedlungen, des Landraubs, an die Diskriminierung und die immer unerträglicher werdende Lebenssituation in den besetzten Gebieten erinnert. Zugleich hatte er auf die Anerkennung Israels im Jahr 1993 durch die PLO verwiesen und zudem bekräftigt, dass der Konflikt mit Israel sich allein um die Besetzung seines Landes drehe. Netanjahus Antwort: »In diesem Konflikt ging es nie um Siedlungen oder um die Errichtung eines palästinensischen Staats. Es ging immer schon um die Existenz eines jüdischen Staates in irgendeiner Grenze.« In dieser Verdrehung der Tatsachen liegt schon mehr als eine pathologische Realitätsverweigerung, wenn er weiter behauptet: »Heute, fast siebzig Jahre später, weigern sich die Palästinenser immer noch, dieses Recht anzuerkennen. Sie erkennen weder unser Recht auf eine Heimat an noch unser Recht auf einen Staat und eine eigene Gesetzgebung. Sie erkennen nichts an! Die anhaltende palästinensische Weigerung, den jüdischen Staat in irgendeiner Grenze anzuerkennen, ist der wahre Kern des Konflikts. Sie sehen, in diesem Konflikt geht es nicht um die Siedlungen. Darum ging es nie.«
Es gehört schon eine erhebliche Portion Chuzpe dazu, den Mitgliedern der UNO diese dreiste Geschichtsklitterung immer wieder vorzusetzen. Würde Israel die völkerrechtlichen Grenzen von 1967 anerkennen, gäbe es keine Probleme, weder mit der PLO noch der Hamas – aber alle israelischen Regierungen haben sich bis jetzt geweigert, diese »Grüne Linie« als Staatsgrenzen anzuerkennen.
Mit seiner »Vision vom Frieden ..., basierend auf zwei Staaten für zwei Völker« hat Netanjahu dann wieder die Niederungen politischer Unglaubwürdigkeit erreicht, die jeden aufrichtigen Freund eines Friedens in dieser Region zum Verlassen des Saales hätte veranlassen müssen. Denn nichts an der Besatzungs- und Siedlungspolitik Netanjahus deutet darauf hin, dass er einen selbständigen palästinensischen Staat akzeptieren könnte. Zu deutlich sind auch die Bekundungen aus seiner Regierungsumgebung, die einen palästinensischen Staat rundheraus ablehnen. Er »begrüßt den Geist der arabischen Friedensinitiative«, doch welche meint er? Die Initiative, die 2002 von der Arabischen Liga auf Betreiben des saudischen Kronprinzen und späteren Königs Abdullah von allen 57 Mitgliedern der Organisation Islamische Konferenz einschließlich des Iran angenommen wurde? Der damalige Ministerpräsidenten Ariel Sharon hat sie als »arabisches Komplott« sofort zurückgewiesen. Seitdem hat es keine neue Initiative gegeben.
Nein, Netanjahu treibt anderes um als der Konflikt mit den Palästinensern, den er auf diesem Niveau des low intensive warfare glaubt, noch lange im Griff halten zu können. Er versucht, die Aufmerksamkeit der Staaten auf den militanten Islam, sei es in Form der Hisbollah, der Palästinenser, des IS oder des Iran, als »größte Bedrohung für die ganze Welt« zu lenken und ruft die Regierungen auf: »Arbeiten Sie mit Israel zusammen, umarmen Sie Israel, träumen Sie mit Israel.« Träumen von der Beendigung der Besatzung, von dem friedlichen Nebeneinander zweier souveräner Nachbarstaaten? Nein, Netanjahu denkt nur an Israel und träumt von »einer Zukunft der atemberaubenden Fortschritte«, an deren Ende Israel »bei den Vereinten Nationen ... aufgenommen wird, um unverbrüchlich seinen rechtmäßigen Platz unter den Nationen einzunehmen«, Palästina aber keinen Platz haben soll. Sein ewiges Angebot, sofort mit Verhandlungen zu beginnen und zum palästinensischen Parlament in Ramallah zu sprechen, vermag niemanden mehr zu täuschen. Netanjahu hat den Palästinensern nichts anzubieten außer einer Existenz in der Apartheid unter dem Zepter Israels.
Wo »konkret« davon faselt, Netanjahu sei »im sicheren Gefühl der eigenen politischen und moralischen Überlegenheit, Großmut walten zu lassen« nach New York gekommen, aus ihm spreche schon »von Amts wegen die Stimme der Vernunft«, bleibt nicht mehr als ein Dokument durchtriebener Verlogenheit und Arroganz, mit der die »Volksseele« angeheizt wird und zugleich sich in ihr widerspiegelt. Wer weiß, weswegen die Presse über den UNO-Auftritt hinwegsah – zu peinlich für den israelischen Repräsentanten unserer Staatsräson? Peinlich aber auch für die Versammlung, die dazu auch noch applaudiert haben soll.