Mit einem Lastwagen, der in einen Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz raste und elf Menschen in den Tod riss, wurde am 19. Dezember 2016 der bislang schwerste islamistische Terroranschlag in der deutschen Geschichte verübt.
Der aus Tunesien stammende Attentäter Anis Amri war den Sicherheitsbehörden trotz seiner 14 verschiedenen Identitäten keineswegs unbekannt. Nach einer vierjährigen Haftstrafe in Italien war Amri im Sommer 2015 nach Deutschland weitergereist, wo er noch vor der von Bundeskanzlerin Angela Merkel verfügten Grenzöffnung für Flüchtlinge eintraf. Spätestens im November werden die Sicherheitsbehörden auf den Tunesier aufmerksam, als dieser gegenüber einem V-Mann des Landeskriminalamtes NRW erklärt, »etwas in Deutschland unternehmen« zu wollen und sich dafür eine Kalaschnikow besorgen zu können. In den folgenden Wochen bleibt ihm der Verfassungsschutz auf der Spur, während Amri »offensiv« in mehreren Bundesländern um Helfer für Anschläge wirbt. Im Februar 2016 wird Amri als »Gefährder« eingestuft. Sicherheitsbehörden finden heraus, dass er im Kontakt mit mutmaßlichen IS-Kämpfern steht. Doch eine Runde von Polizei und Geheimdienstbehörden stuft die Gefahr durch Amri als »eher unwahrscheinlich« ein. Ein im März in Berlin eingeleitetes Ermittlungsverfahren endet ergebnislos im September. Im Mai wird Amris Asylantrag abgelehnt, seine Abschiebung scheitert an fehlenden Papieren, die die tunesische Regierung erst zwei Tage nach dem Anschlag im Dezember zustellt. Das aus Dutzenden Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern gebildete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) befasst sich im Juli 2016 mit Amri und kommt zu dem Ergebnis: »Eine akute Gefährdungslage liegt derzeit nicht vor.« Im September trifft eine Warnung des marokkanischen Geheimdienstes bezüglich Amri ein. In Berlin, wohin Amri von einem V-Mann des Verfassungsschutzes gebracht wurde, bewegt er sich innerhalb eines Dschihadisten-Netzwerkes um den Salafisten-Prediger Abu Walaa, der im November von der Generalbundesanwaltschaft verhaftet wird. Doch weiterhin ist für das GTAZ, das sich insgesamt sieben Mal mit Amri befasst hat, bezüglich des Tunesiers »kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar«. Sechs Wochen später verübt Amri den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt.
Bestehende Gesetze hätten durchaus ausgereicht, um Amri lange vor dem Attentat festzusetzen, unter Meldeauflagen zur besseren Kontrolle zu stellen oder abzuschieben. Doch dafür hätten seine Gefährlichkeit erkannt und bürokratische Hindernisse wie falsche Formulare oder nicht kompatible Datensysteme vermieden werden müssen. Mit einer Sondersitzung des Bundestagsinnenausschusses zwei Tage nach dem Anschlag täuschte die Bundesregierung rege Aktivität vor – doch der Bundesinnenminister und die Spitzen der Sicherheitsbehörden servierten den Abgeordneten bezüglich der Hintergründe nur kalten Kaffee. Häppchenweise aus der Presse erfuhren somit die Abgeordneten von den Fehleinschätzungen und dem offenkundigen Versagen der Sicherheitsbehörden, die Amri monatelang observierten, von seinen Anschlagsabsichten wussten und ihn dennoch als harmlos einstuften.
Anders als zwei Tage nach dem Anschlag lagen Anfang Januar 2017 genug Informationen vor. Doch die Regierungsfraktionen lehnten nun eine von der Linksfraktion beantragte Sondersitzung des Innenausschusses, die sich mit dem Behördenversagen im Fall Amri befassen sollte, ab. Es geht den Koalitionspartnern offensichtlich nicht um Aufklärung. Vielmehr liefern sich CDU, CSU und SPD seit dem Berliner Anschlag einen Überbietungswettbewerb darum, wer mehr Härte in der Flüchtlings- und Sicherheitsfrage fordert.
Den Auftakt machte die CSU. Ihr auf ihrer Klausurtagung präsentierter nachweihnachtlicher Wunschzettel beinhaltete das bekannte Law-and-Order-Instrumentarium: weitere Verschärfung der Abschiebepraxis, Ausweitung der Befugnisse von Polizei und Verfassungsschutz, elektronische Fußfesseln bereits für nicht näher definierte »Extremisten« und Schaffung eines neuen Haftgrundes »Gefährder«. »Pauschal bei jeder Gesetzesverschärfung Datenschutzrechte oder Missbrauchsgefahren in den Fokus zu rücken, ist der falsche Ansatz«, bekennt sich die CSU in ihrem Papier offen zu ihrem Grundrechtsnihilismus.
Doch den Vogel schoss Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 3. Januar ab, in dem er »Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten« umriss. »Deutschland muss stark bleiben«, heißt es in der ideologischen Vorbemerkung des Textes, in dem der Minister seine Vorstellungen präsentiert, wie das Land seine »Fähigkeiten zur Krisenbewältigung« zukunftsfest machen und der Staat sich »auf schwierige Zeiten noch besser vorbereiten« solle. Es handelt sich bei de Maizières Visionen nicht nur um eine klare Kehrtwende in der bisherigen, gegenüber seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble durch eine gewisse Nüchternheit geprägten Innenpolitik, sondern um einen Generalangriff auf die sogenannte Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik. Im Kern zielen de Maizières Vorschläge auf die Beseitigung der als Lehre aus dem NS-Regime bestehenden föderalen Strukturen der Sicherheitsbehörden. So sollen die Landesverfassungsschutzämter zugunsten eines gestärkten Inlandsgeheimdienstes auf Bundesebene abgeschafft, die Kompetenzen der Bundespolizei zu einer Art deutschem FBI ausgeweitet werden, das verdachtsunabhängige Kontrollen im ganzen Bundesgebiet durchführen kann. Es soll Zuständigkeit des Bundes für »nationale Katastrophen« geschaffen werden und in diesem Zusammenhang die Bundeswehr zum bewaffneten Objektschutz im Inland eingesetzt werden. Über die Hintertür des Katastrophenschutzes soll hier der Weg zu Inlandseinsätzen der Bundeswehr als Hilfspolizei mit Zwangsmitteln gebahnt werden. Dazu kommt ein von de Maizière vorgeschlagener Maßnahmenkatalog für eine Verschärfung der Abschiebepolitik, der zentrale Abschiebelager ebenso vorsieht wie euphemistisch als Bundesausreisezentren bezeichnete Lager für abgelehnte Asylbewerber unter Verantwortung der Bundespolizei. Der grundgesetzliche Richtervorbehalt für den Freiheitsentzug in Abschiebehaft soll durch eine Ausweitung des Abschiebegewahrsams ausgehebelt werden. Für sogenannte Gefährder – also von Behörden als potentielle schwere Straftäter eingestufte, aber nicht verurteilte Personen – soll ein eigener Tatbestand als Voraussetzung für die Abschiebehaft geschaffen werden. Die Abschiebehaft würde damit von einem Verwaltungsakt zur Durchsetzung einer Ausreisepflicht in ein fremdenpolizeiliches Repressionsmittel verwandelt. Mit nationalistischer Rhetorik versucht der Innenminister den ganzen Kanon von vorgeschlagenen Eingriffen in Bürger- und Menschenrechte zu rechtfertigen. Wenn de Maizière dann noch von einer »nationalen Kraftanstrengung zur Verstärkung der Rückkehr von Ausreisepflichten« schwadroniert, drängt sich unweigerlich das Bild eines brandschatzenden Lynchmobs vor Asylunterkünften auf.
De Maizières Pläne bereiten den Weg für ein Regime des permanenten Notstandes. Sie können als Einstieg in einen autoritären Polizeistaat gelesen werden. Der Bundesinnenminister denkt ganz in der Traditionslinie konservativ-reaktionärer Staatspolitik den Staat vom Notstand her. In dieser an den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt anknüpfenden Denktradition gilt nicht das Staatsvolk als Souverän, sondern derjenige, der über den Notstand befindet. Auf Widerspruch auch aus den eigenen Reihen stießen de Maizières Vorschläge zwar auch bei unionsgeführten Landesregierungen, die um die Abgabe von Kompetenzen an Berlin fürchten. Bayern werde niemals sein Landesamt für Verfassungsschutz aufgeben, tönte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer. Doch hat de Maizière mit seinem Papier die grundsätzliche Marschroute vorgegeben. Der Fisch stinkt vom Kopfe her, Ausgerechnet der Bundesinnenminister als oberster Verfassungshüter läuft Amok gegen die demokratische und föderale Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Die nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt wieder vielbeschworene »offene Gesellschaft« wird in Wahrheit von zwei Seiten attackiert: Von dschihadistischen Terroristen einerseits und den schwarzen Sheriffs von CSU/CDU und auch der SPD andererseits. Lassen wir nicht zu, dass die Toten auf dem Berliner Weihnachtsmarkt dazu missbraucht werden, die Stimmung in der Bevölkerung für weitere Einschnitte bei den Bürgerrechten zu gewinnen!