Regelmäßig wird in Publikationen der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern der Eindruck erweckt, dass Antikapitalismus und Antifaschismus als »linksextremistische Aktionsfelder« per se nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FDGO) vereinbar seien. Demgegenüber hatte etwa der renommierte Marburger Rechts- und Sozialwissenschaftler Wolfgang Abendroth (1906–1985) die Ansicht vertreten, dass das Grundgesetz eine zum Sozialismus hin offene Verfassung darstelle. »Die Garantie der Möglichkeit zu legaler Transformation der sozialökonomischen und soziokulturellen Basis in Richtung auf eine sozialistische Gesellschaft, die auch real (und nicht nur juristisch-fiktiv) wirklich allen gleiche Rechte gewährt«, bleibe wesentlicher Gehalt des Systems der Demokratie in der Rechtsordnung des Grundgesetzes.
Die Linksfraktion im Bundestag hat daher eine Kleine Anfrage zur »Konformität von Antifaschismus und Antikapitalismus mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung« an die Bundesregierung gestellt. Sowohl die Ablehnung und Bekämpfung von Nationalsozialismus, Faschismus und Rechtsextremismus als auch Kritik an der bestehenden Wirtschaftsordnung seien »grundsätzlich und per se nicht extremistisch«, versucht die Bundesregierung erst einmal abzuwiegeln. Doch ständen die Schlagworte »Antifaschismus« und »Antikapitalismus« auch für die beiden wichtigsten Agitations- und Aktionsfelder des deutschen Linksextremismus, heißt es in der Antwort weiter. Kapitalismus bezeichne aus linksextremistischer Sicht nicht nur soziale Missstände, sondern auch gesellschaftspolitische Phänomene wie Faschismus, Rechtsextremismus, Rassismus, Repression, Gentrifizierung und Militarismus. Für Linksextremisten sei der Kapitalismus daher mehr als eine bloße Wirtschaftsordnung, »sondern eine im Sinne von Karl Marx durch eine Revolution zu überwindende Gesellschaftsordnung«, schlussfolgert die Bundesregierung. »In diesem Zusammenhang beabsichtigen Linksextremisten eine Veränderung des gesellschaftlichen und politischen Systems hin zu einer sozialistischkommunistischen [sic] Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsordnung.« Für Parteien und Gruppierungen mit einem marxistischen Selbstverständnis ist diese Feststellung zwar nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Dass dennoch nicht jeder Anhänger marxistischer Gesellschaftsanalyse unbedingt die revolutionären Schlussfolgerungen von Marx und Engels teilt, haben schon die Richtungskämpfe zwischen Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Eduard Bernstein in der SPD vor dem Ersten Weltkrieg gezeigt.
»Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ist nicht Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung«, stellt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Linken-Anfrage erfreulicherweise fest. Kritik am Kapitalismus sei dann mit der FDGO vereinbar, wenn sie sich ausschließlich an den Kapitalismus als Wirtschaftssystem richtet. Doch »eine Kritik, die darüber hinaus den Kapitalismus als Gesellschaftsform ansieht, die es z. B. mit dem Ziel der Errichtung einer sozialistisch-kommunistischen Diktatur oder mit Gewaltanwendung zu überwinden gilt, ist dagegen nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar.«
Antifaschisten, die gemäß dem Schwur der Überlebenden von Buchenwald aus dem Jahr 1945 nicht nur den Nazismus, sondern auch dessen (kapitalistische) Wurzeln bekämpfen und eine »neue Welt des Friedens und der Freiheit« aufbauen wollen, werden damit in der Konsequenz außerhalb des vom Grundgesetz garantierten Meinungsspektrums gestellt. Das hat das Landesamt für Verfassungsschutz im schwarz-grün regierten Hessen im Prozess der Lehrerin und Antifaschistin Silvia Gingold gegen ihre Überwachung im vergangenen Jahr offen erklärt. Ganz so weit will die Bundesregierung nicht gehen. Eine Bewertung des Schwurs von Buchenwald bedürfe »aus hiesiger Sicht einer politikwissenschaftlichen Reflektion [sic]«, heißt es auf Nachfrage.
Allerdings ist die Argumentation der Bundesregierung nicht weniger perfide: »Der Parlamentarismus ist Kernbestandteil der bundesdeutschen Verfassungsordnung. Kritik und Ablehnung dieser Verfassungsordnung sind wesentliche Elemente linksextremistischer Ideologie«, wird in der Antwort kurzerhand behauptet. Daraus wiederum wird abgeleitet: »Die Beteiligung von Linksextremisten an ›gesellschaftlichen und politischen Debatten und Protestaktionen‹ durch die verschiedenen, u. a. im Verfassungsschutzbericht 2016 aufgeführten Aktionsfelder [also Antifaschismus, Antikapitalismus, Anti-Gentrifizierung, Antimilitarismus etc., U. J.] richtet sich folglich direkt oder indirekt auch gegen die Normen und Regeln des demokratischen Verfassungsstaates und somit auch gegen die parlamentarische Demokratie.«
Wer Kriege, das Aufkommen von faschistischen Parteien oder Massenentlassungen nicht als Schicksal oder Zufälligkeiten, sondern als zwangsläufige Folgen des Kapitalismus sieht und aus dieser Erkenntnis heraus für eine nicht-kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eintritt, verlässt nach Ansicht der Bundesregierung den Boden der FDGO. Die Beteiligung an einem Antinaziprotest, einer Demonstration gegen Krieg, das Engagement gegen die Verdrängung durch hohe Mieten oder die Solidarität mit streikenden Metallarbeitern wird aus dieser Sichtweise dann zur verfassungsfeindlichen, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Tat, wenn ein Teilnehmer sich als Kommunist, Marxist oder Anarchist versteht oder vom Verfassungsschutz diesem Spektrum zugeordnet wird. Ausschlaggebend ist nach Ansicht der Bundesregierung nicht die Tat, sondern die Gesinnung. Und wann diese Gesinnung als extremistisch zu gelten hat, darüber urteilt wiederum der Verfassungsschutz, dessen eigentliche Aufgabe folglich nicht in der Verteidigung der Grundrechte, sondern der herrschenden Eigentumsverhältnisse besteht.