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Titel218

SPD – der Nachruf  (Otto Köhler)

Sonntag 18.30 Uhr. Vor zwei Stunden hat die SPD auf ihrem Parteitag mit knapper Mehrheit Selbstmord beschlossen. Hörzu zeigt an: »18.30 Bericht a. Berlin«. Ich schalte Das Erste ein und erschrocken auf stumm: Die ARD überzieht im Rahmen ihres Entpolitisierungsprogramms zur Sedierung ihres Zuschauervolkes die Sendezeit der neuneinhalbstündigen »Sportschau« (seit 8.55 Uhr) auch noch um die 20 Minuten ihres Berichts aus der Bundespolitik für irgendein Hand- oder Fußballspiel – ich sehe das Transparent »Die Dorfjugend grüßt ...«

 

Das ist angemessenes Deppenprogramm für den historischen Tag der ältesten Partei Deutschlands, die nunmehr vor ihrem baldigen Ende steht. Der ARD-»Bericht aus Berlin« – diesmal vom Bonner Parteitag – fällt ohne jeden Hinweis, ohne die geringste Entschuldigung zugunsten des allmächtigen Fußballs ganz einfach aus. Immerhin, Bücher darf man in diesem Analphabetisierungsstaat noch lesen, wenn sie zugestellt werden. Am Mittwoch zuvor fand ich in meinen Briefkasten – ich war zuhause, geklingelt hatte es nicht – eine Benachrichtigung, ich solle bei der 15 Kilometer entfernten, nur über eine gefährliche Landstraße erreichbaren Postagentur am Donnerstag eine Büchersendung abholen. Am Donnerstag fegte ein Orkan über Deutschland – acht Tote. Immerhin ganz verhindern konnte die im Besitz des Bundes befindliche Post nicht, dass mir der Piper-Verlag wenigstens noch die Textdatei des Buches mailte, das Aufschluss über die Partei gibt, die sich am Sonntag aufs Sterbebett legte: Joachim Käppner: »1918. Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen«, 528 Seiten, 28 Euro. Es ist auch ein Buch zum SPD-Parteitag in Bonn.

 

Dieses Buch gibt erschreckenden Aufschluss, was seit genau hundert Jahren mit der Partei geschieht, auf die Millionen ihre Hoffnung gesetzt hatten und heute mehr und mehr verlieren. Der Historiker Joachim Käppner, ein braver Redakteur der Süddeutschen Zeitung, schildert akribisch, wie die SPD-Führung 1918 die Chance versäumte, in Deutschland eine standfeste Demokratie zu errichten. Sie versäumte 1918 die große Chance, die alten Gewalten des Kaiserreichs, vor allem die herrschenden Eliten und noch wichtiger: das Militär, zu entmachten. Den Kriegskrediten hatte die stolze deutsche Sozialdemokratie – teils jammernd, teils jubelnd – zugestimmt. Aber jetzt hätte sie die unfähigen Verlierer – Hindenburg und Ludendorff – ganz einfach verhaften lassen können, schreibt Käppner. Doch der Oberste Volksbeauftragte Ebert begeht Verrat an seiner Partei und paktiert heimlich mit den Kriegsverbrechern.

 

Heute ist Sonntag und mein niedersächsischer Ministerpräsident Stephan Weil redet auf dem Parteitag in Bonn dummes Zeug aus seinem beschränkten Fußballverstand: »Wer nicht auf dem Platz steht, kann keine Tore schießen.« Eine Koalition will zwar auch die Massen ablenken, aber sie ist nun mal kein Fußballspiel.

 

Es ist – seit Gerhard Schröder die SPD mit Hartz IV und mit dem Krieg gegen Jugoslawien an den Abgrund führte, der wichtigste Tag in der neueren Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Sie muss entscheiden, ob die »Endlosschleife« (Jusovorsitzender Kevin Kühnert) der andauernden Großen Koalition mit immer weniger Wählern sich jetzt zuzieht und die SPD erwürgt. Oder ob das Wort des Parteivorsitzenden Martin Schulz vom Wahlabend – Schluss mit der GroKo – noch immer gilt. Doch Schulz nimmt sein Wort zurück. »Ich habe es mir nicht leichtgemacht«, sagt um 12 Uhr Mittag auf dem Parteitag der Große Vorsitzende und macht es sich federleicht. »Dass wir der Bitte des Bundespräsidenten folgten, dafür bestand für mich kein Zweifel.« Des Bundespräsidenten, der als Außenminister – so lange ist das nicht her – energisch mitgeholfen hat, in der Ukraine einem halbfaschistischen Regime zur Macht zu verhelfen. Und der zuvor als Chef des Kanzleramts die verheerende Hartz-IV-Infusion in die deutsche Sozialdemokratie einbrachte.

 

Die Rede des Vorsitzenden Schulz ist schwach, er bittet, er fleht, um sein gebrochenes Versprechen vom Wahlabend vergessen zu machen. Umso stärker ist das Wort seiner Stellvertreterin, Andrea Nahles, die nach einem Urteil des Spiegel anders als Schulz das uneingeschränkte Vertrauen der Union genießt. Sie droht, ihre »Liebe zur SPD« sei »ungebrochen groß«, und setzt vorsorglich, obwohl davon keine Rede war, den Fluch drauf: »Ein Linksbündnis, das ist doch Blödsinn, verdammt noch Mal.« Sie verspricht: »Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.« Doch der GroKo-Strick liegt um den Hals der SPD. Er wird sich zuziehen, bis sie nicht einmal mehr quietschen kann.

 

Der Parteitag hat sich mit knapper Mehrheit entschieden. Es gilt das gebrochene Wort. Der Eintritt in eine neue Große Koalition wird das Ende der deutschen Sozialdemokratie sein.