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Titel218

Politikfeindlichkeit leichtgemacht  (Marc-Thomas Bock)

Das Jahr 2018 hat begonnen, und wir ermangeln – wie bereits vier Jahre zuvor – einer tatsächlichen Regierung. Nur dass die Politikerinnen und Politiker den damaligen Rekord von 86 Tagen bereits weit überboten haben.

 

Derzeit verweilen wir im geschäftsgeführten Modus eines selbstlaufenden Gemeinwesens. Zwar hatte sich das Volk im September vergangenen Jahres brav an die Wahlurnen begeben, wurde für diesen Akt politischer Teilhabe jedoch nicht etwa mit einer Regierung, sondern mit einer Riege von Geschäftsführern belohnt. Seitdem blinken die innenpolitischen Funktionsleuchten auf Standby. Die Arbeitsgruppen von Jamaika, die reibungslose Weiterführung einer GroKo und die kurze Idee von einer KoKo sind gescheitert, weil Personalien und parteipolitische Ideologien den Herausforderungen einer krisengeschüttelten Gegenwartsgesellschaft im globalen Umbruch nicht mehr gewachsen sind. Menschliche Eitelkeiten, parteiprogrammatische Dogmen und mandatserheischende Zaghaftigkeit dominieren das politische Tagesgeschäft. Mögliche Minderheitsszenarien oder vom Bundespräsidenten anberaumte Neuwahlen sind Optionen, die neben den »Sondierungen«, dem Unwort des Monats Januar, immer noch verbleiben.

 

Uns bisher wohlwollend gesonnene Menschen aller Kontinente schauen mit leise wachsender Verwunderung auf das Land des Fußballs und der teuren Autos und beginnen sich zu fragen: Was ist bloß mit den Deutschen los? Aber vielleicht sind wir ja tatsächlich irgendwie anders als die anderen Völker dieser Erde? Vielleicht sind wir ja die einzigen, die eine Regierung gar nicht nötig haben, weil unsere kulturhistorischen Sekundärtugenden wie Gehorsam, Pünktlichkeit und Strukturiertheit immer schon so prima funktionierten? Im Schlechten wie im Guten. Von Auschwitz bis zu Audi. Weil der so oft geschmähte Föderalismus – auch dieser ein geschickter Schachzug der alliierten Gründungsväter – mit seinen Landesparlamenten, Kommunal- und Kreispolitikern im Alltagsleben der Menschen zwischen Usedom und Unterammergau parteienübergreifend besser und reibungsloser funktioniert als eine Kaffeepause zwischen den Sondierungsgesprächen der gegenwärtig agierenden Profilierer.

 

Und wenn schon keine Visionen erarbeitet werden, weil man glaubt, sich solches als Interimspolitiker leisten zu können, so kann man sich als Geschäftsführer zumindest seines auf Privilegienerhaltung abzielenden Vergütungssystems versichert sein: Denn die Abgeordnetendiäten werden auch dann erhöht, wenn der Status der Geschäftsführung ansonsten keinerlei exekutive Aktivitäten wünschenswert erscheinen lässt. All dies geschieht – oder eben gerade nicht – in einer Zeit hochgradiger Gefährdung sozialer und kultureller Stabilisierungssysteme: Informationstechnische Demokratisierung und Pluralisierung durch das Internet und die sozialen Medien ermöglichen den Menschen einen Einblick in und den Austausch über gesellschaftliche Wirklichkeiten, die den Verlautbarungen etablierter Medien immer öfter zuwiderlaufen oder ihnen gänzlich Hohn sprechen. Diese Divergenz in der persönlichen Wahrnehmung und Auslegung globaler oder lokaler Entwicklungen und Ereignisse führt zu einem gesellschaftlichen Konfrontationspotential, das ohne einen moralisch ausgleichenden »Überbau« ganze Solidargemeinschaften, legislative Normen oder die sehr persönliche Sicherheit der Bürger zu gefährden vermag.

 

Die den frohgemuten Statistiken zur Vollbeschäftigung widersprechenden Erfahrungen der vielen in prekären, multiplen und minderbezahlten Arbeitsverhältnissen Beschäftigten verbinden sich mit den immer politikfeindlicheren statt bislang nur politikverdrossenen Grundhaltungen von Menschen, denen es so schlecht eben noch nicht geht, die jedoch ihre kleinen oder größeren Pfründe aggressiv verteidigen. Als Beispiel lässt sich der xenophobe Grundkonsens weiter Bevölkerungsteile jenseits von sozialem Status oder Einkommensgruppen benennen, der den Arbeitslosen mit dem Angestellten oder Akademiker verbindet. Unausgewogene, tendenziöse oder unterlassene Berichterstattung beziehungsweise Kommentierung in den Leitmedien zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens haben zur Folge, dass sich abgestufte und differenzierte, in letzter Konsequenz humanistisch geleitete Auseinandersetzungen mit Themen wie migrationsinduzierter Kriminalität, sozialer Gerechtigkeit, kultureller Identität oder aktuell der geschlechtlichen Selbstbehauptung gar nicht mehr führen lassen. In einem Klima der Verunglimpfung, der sarkastischen Ironisierung, der gnadenlosen Kategorisierung (hier der »Gutmensch«, dort der »Nazi«) und des unerschütterlichen Misstrauens gedeiht eine Kultur der affektiven Vorverurteilung und der gesellschaftlichen Ausgrenzung.

 

Fest steht, dass tradierte Denk- und Handlungsweisen, die man bis in die 1990er Jahre unter »Links« oder »Rechts« verorten konnte, in ihren »klassischen« Formen immer mehr korrodieren. Jahrzehntealte Orientierungen lösen sich auf und wandeln sich bis zur Unkenntlichkeit. Marxistische und klassenbezogene Leitbilder, die das Kapital und seine Repräsentanten als Grundübel verbrecherischer Disparitäten anerkennen, werden zum Beispiel von den linken G-8-Demonstranten der anarchistisch-undogmatischen »Insurrecionistas« (span. die »Aufständischen«) als nicht mehr zeitgemäß (Wolfi Landstreicher) verworfen, während sie als Einsprengsel einer neurechten Antikapitalismus-Kritik (»Marx vom Marxismus befreien«) bei Alain de Benoist und Benedikt Kaiser als durchaus zeitgemäß willkommen sind.

 

Dazu gesellt sich die hochwirksame Attraktivität von Verschwörungstheorien, die für alle politischen, gesellschaftlichen und individuellen Probleme ausreichende Erklärungsmuster bieten. Auch diese Tendenz in der Spiegelung globaler Kriege und Konflikte dient – wie schon seit Tausenden von Jahren – der Benennung von Schuldigen, ohne die wir unsere eigene Moral und Sichtweise nicht aufrechterhalten könnten. Die Krux im Geflecht der Konspirationsthesen liegt eben auch in deren partieller Wahrheit oder, noch schlimmer, in der berechtigten Annahme, dass dem Menschen schlicht alle Schweinereien zuzutrauen seien. Inzwischen kann jeder nur halbwegs aufgeklärte Staatsbürger seine Sichtweisen so darlegen, dass sie aus Gründen mangelhafter Nachweisbarkeit entweder als nicht haltbar, also »postfaktisch«, oder aber als »unabhängig«, »souverän« und »eingeweiht« bezeichnet werden können. Wahrheiten werden als Verschwörungstheorien abgetan, während Verschwörungstheorien zu Wahrheiten mutieren. Jede Meinung kann in die konspirative Ecke geraten. Geisteswissenschaftlich verbrämt hieße dies dann »diskursiver Pluralismus«. Zu dieser neuen Unübersichtlichkeit an der Basis kommt hinzu, dass nun auch eine rassistische Partei im Bundestag sitzt und einige Linken-Politiker nach einem überparteilichen »linken Bündnis« rufen, weil die SPD die letzten Reste ihrer linken Grundwerte gerade dem möglichen Koalitionspartner CDU/CSU zum Fraß vorwirft. Am Schlimmsten jedoch ist, dass die derzeitige »Geschäftsführung« in ihrer selbstgerechten Gelassenheit eben das ideenlose »Weiter so« der vergangenen fünf Jahre als durchaus annehmbar zu empfinden scheint. Die parlamentarische Routine dient ihr dabei als eine Art einlullende Wattewolke, die nicht nur ihre Gestaltungsarmut verschleiern, sondern sie auch gegenüber den immer stärker werdenden Abneigungen ihrer Wähler abfedern soll.

 

Watte, gar solche aus Zucker, das wissen schon die lieben Kleinen, schmeckt süß, aber löst sich bald im Munde auf. Was bleibt, ist der Hunger auf was Richtiges.