In der EU fehlen 25 Millionen Arbeitsplätze. In Deutschland mindestens sechs Millionen. Und vier von zehn Beschäftigten haben in der EU nur eine atypische Beschäftigung, das heißt, sie arbeiten nicht Vollzeit, haben keinen unbefristeten Arbeitsvertrag und sind nicht sozialversichert. In Deutschland sind von zurzeit 39,1 Millionen abhängig Beschäftigten 7,6 Millionen Menschen nur geringfügig in einem Mini- oder Midijob beschäftigt. Das sind 18,7 Prozent aller Beschäftigten. Immer mehr Menschen können von einem Job nicht mehr leben. Sie dienen mehreren Unternehmern. Das von den atypisch und prekär Beschäftigten erzielte Arbeitseinkommen ist dabei erbärmlich niedrig. Und da wundern sich sogenannte Wirtschaftsexperten, dass die Lohnentwicklung hinter der zurzeit günstigen Wachstums- beziehungsweise (ökonomisch exakt) Wertschöpfungsentwicklung zurückbleibt. Die durch die von rot-grün initiierte Agenda 2010 gewollt prekarisierten Arbeitsmärkte geben eben nur niedrigste Arbeitseinkommen und Steigerungen her. Trotzdem, so die selbsternannten Eliten in Politik und Wirtschaft sowie ihre Helfer in Wissenschaft und Medien, seien die Arbeitsmärkte in einem guten Zustand. Einige reden schon von Vollbeschäftigung, viele von einem Fachkräftemangel. Dabei verschweigen sie bewusst das oben erwähnte Prekariat auf den Arbeitsmärkten und jenen Teil der Arbeitslosigkeit, den Deutschland durch seine extremen Exportüberschüsse ins Ausland verlagert. Und sie verschweigen auch die politisch manipulierten Arbeitslosenzahlen und -quoten, die in der wirtschaftlichen Realität wesentlich höher sind als die regelmäßig nur ausgewiesenen Zahlen.
Fakt ist auch, dass der hochproduktive Kapitalismus immer weniger den Menschen im Produktionsprozess braucht, obwohl er der einzige Neuwert schaffende Produktionsfaktor ist. Die sich zunehmend verbreitende Digitalisierung (»Fabrik 4.0«) wird dazu ein Übriges beitragen. Karl Marx wird am Ende Recht behalten. Nicht nur in den Entwicklungs- und Schwellenländern, sondern auch in den Industrieländern wird es zu einer zunehmenden Verelendung kommen. Zumindest wird sich die heute schon stark segmentierte Gesellschaft noch mehr in Arm und Reich aufspalten. Die Armutsquote in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, beträgt bereits 16 Prozent. Jedes fünfte Kind wächst bei uns in bitterer Armut auf (vgl. Christoph Butterwegge in Ossietzky 22-24/2017).
Dies alles ist das Ergebnis einer seit Mitte der 1970er Jahre eingesetzten Neoliberalisierung. Das neue Paradigma löste den wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegs-Keynesianismus ab, der speziell in der alten Bundesrepublik zur ordnungstheoretischen Konstituierung der »sozialen Marktwirtschaft« geführt hatte. Die Kapitaleigentümer akzeptierten dann aber eine sich aus dem »Sozialen« notwendig ableitende Umverteilung der immer arbeitsteilig geschaffenen Wertschöpfung zu ihren Lasten nicht mehr. Die Lohnquote war, auch in Anbetracht einer Vollbeschäftigung bis zur Weltwirtschaftskrise 1974/75, kräftig gestiegen und in Folge die Profit- beziehungsweise Mehrwertquote gesunken. Hinzu kam eine Verschlechterung des Quotienten aus Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität. Die Kapitalproduktivität ging zurück. Es musste immer mehr Kapital für die Schaffung eines Arbeitsplatzes eingesetzt werden, um so eine zusätzliche Einheit Arbeitsproduktivität zu generieren. Das Steigen der Lohnquote in Verbindung mit der verschlechterten Relation aus Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität führte zu einer fallenden Profitrate, der aus Sicht des Kapitals entscheidenden wirtschaftlichen Kennziffer.
Die aufkommende Massenarbeitslosigkeit schaffte dann aber für die Kapitaleigner ein neues Klima: Existenzangst kam unter den Beschäftigten auf. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion (Wegfall der Systemkonkurrenz) und unter dem Duktus einer Shareholder-Value-Doktrin, die nur noch den Profit der Kapitaleigentümer sieht und die Arbeitseinkommen der abhängig Beschäftigten zur Restgröße degradiert hat, wird zunehmend seit Beginn der 1990er Jahre in der marktbezogenen Primärverteilung zu Gunsten der Kapitaleinkünfte (Zins, Grundrente, Gewinn) kräftig umverteilt. Die Profitrate steigt seitdem wieder. Und die neoliberal durchsetzte Politik, beherrscht von den Finanzoligarchen auf den Finanzmärkten, hilft dabei in der staatlichen Sekundärverteilung noch mit. So wurde die Steuer- und Sozialabgabenpolitik einseitig zu Gunsten der hohen Einkommen und Vermögen ausgerichtet. Belastet wurden dagegen die mittleren und unteren Arbeitseinkommen – besonders auch durch eine drastische Erhöhung der indirekten Verbrauchssteuern. Es ist geradezu ein schlechter Witz, dass Deutschland keine Vermögensteuer und nur allerniedrigste Erbschafts- und Schenkungssteuern erhebt. Die jetzt von US-Präsident Donald Trump umgesetzte »Steuerreform« in den USA ist hier der vorläufige Gipfel einer weltweit praktizierten unerträglichen neoliberalen Wirtschaftspolitik gegen das Volk. Sie ist »die regressivste Steuerreform mit den größten Verzerrungen, die wir in Amerika jemals gemacht haben«, sagt der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz laut Handelsblatt. Trumps »Reform« mit geplanten Steuersenkungen in Höhe von rund 1,5 Billionen US-Dollar entlastet vor allem die Reichen und damit auch ihn selbst. Kein Wunder, dass kurz nach Verabschiedung des neuen amerikanischen Steuergesetzes auch in Deutschland die Kapitaleigner und ihre Claqueure in Politik und Wirtschaftswissenschaft weitere Profitsteuersenkungen fordern. Hier zeigt sich einmal mehr die ganze pathologisch-neoliberale Ideologie.
Das bisher einschneidendste neoliberale Ergebnis der weltweiten primären und sekundären Umverteilungsorgien war die 2007 ausbrechende schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1920er Jahren. Vorkrisen gab es in den 1990er Jahren und mit dem Platzen der dotcom-Blase, der sogenannten New Economy. Die akkumulierten ungleich verteilten Kapitalbestände fanden jetzt endgültig keine profitable Verwertung mehr, und es kam zum großen Crash. Die Krise vernichtete Millionen Arbeitsplätze – das Kapital der Reichen und Vermögenden aber wurde so gut wie verschont. Dazu musste in den einzelnen Volkswirtschaften das Konto Staatsverschuldung herhalten. Überall auf der Welt schossen die Staatsschulden zur Krisenkompensation durch die Decke. Da die Reichen ihr Vermögen behielten, gaben sie den Staaten die notwendigen Kredite zur antizyklischen keynesianischen Gegensteuerung beziehungsweise zur Finanzierung der Konjunktur- und Beschäftigungsprogramme und erhielten dafür Zinsen. Dies machte die Reichen am Ende noch reicher und erhöht den politischen Druck auf die öffentlichen Sozialhaushalte durch eine kontraproduktive Austeritätspolitik und staatlich mit nicht mehr zu überbietender Borniertheit installierte Schuldenbremsen (vgl. Bontrup zur Schuldenbremse in Ossietzky 23/2017).
Die aufgelaufenen Staatsschulden sind aber in vielen Ländern zu hoch, erklärt der renommierte US-Ökonom Michael Hudson, der übrigens 2006 die 2007 einsetzende schwere Finanz- und Wirtschaftskrise vorhersagte. Allein mit Wirtschaftswachstum sei es kaum noch möglich, die Schulden zuzüglich der entsprechenden Zinszahlungen zu tilgen. 2008 wurde der entscheidende Fehler gemacht, stellt Hudson zu Recht in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau fest. Obamas Regierung entschied sich, die Banken beziehungsweise die vermögenden Gläubiger zu retten, nicht die Schuldner. Anstatt einen gezielten Kapitalschnitt bei den Reichen und Vermögenden zu machen, um damit einen Neustart in der produzierenden Wirtschaft zu ermöglichen, wurde lediglich ein »atomisierter Kapitalschnitt« durch eine Niedrigzinspolitik der Notenbanken vorgenommen. Hierunter leiden aber auch Millionen Kleinsparer. Völlig zu Unrecht! Die Wirtschaft wurde in einen gefährlichen deflatorischen Zustand versetzt. So wird es zu keiner wirtschaftlichen Gesundung kommen. Im Gegenteil: Hudson befürchtet ohne einen gezielten Schuldenerlass eher ein Kollabieren der Weltwirtschaft.
Der Gipfel zum Vorteil (Schutz) der Vermögenden in Deutschland ist jetzt ein Urteil des Bundesfinanzhofs. Demnach können Gläubiger ab sofort von Schuldnern nicht zurückgezahlte Kredite bei der Einkommensteuer als Verlust voll absetzen. Im konkreten Fall hatte ein Ehepaar aus Nordrhein-Westfalen im Jahr 2010 gut 24.000 Euro gegen fünf Prozent Zinsen verliehen. Der Schuldner konnte 19.000 Euro wegen Insolvenz nicht zurückzahlen. Das örtliche Finanzamt hatte selbstverständlich die 19.000 Euro nicht als Verlust anerkannt. Das Ehepaar zog dagegen vor Gericht und bekam jetzt in letzter Instanz höchstrichterlich »Recht«. Ein »wunderbares« Urteil für vermögende Geldverleiher und Spekulanten, die sich jetzt keine allzu großen Sorgen mehr machen müssen. Bei Verlust haftet der Staat! Fragt sich dann nur noch, wer die Steuerausfälle finanziert?
Wie verhängnisvoll die nach der Finanzkrise weiter betriebene neoliberale Wirtschaftspolitik gewirkt hat, kann man auch im Fall Griechenland studieren. Ein hier nicht vollzogener ausreichender Kapital- beziehungsweise Schuldenschnitt hat das Land in eine Elendsökonomie verwandelt. Die umgesetzte Austeritätspolitik wirkte kontraproduktiv. Selbst der neoliberale Internationale Währungsfonds (IWF) fordert mittlerweile für Griechenland einen Schuldenschnitt. Der Abbau der aufgelaufenen Schuldenlast von 300 Milliarden Euro sei von den Griechen nicht mehr aus eigener Kraft zu bewältigen. Auch nicht, wenn Griechenland seine letzten staatlichen Besitztümer verkauft – gerade ging der Hafen von Thessaloniki für 232 Millionen Euro an ein internationales Konsortium.
Eine dringend notwendige Schuldenstreichung in vielen Staatshaushalten wird aber nicht ausreichen. In der real produzierenden Ökonomie bedarf es zusätzlich auch einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich zur Bekämpfung der wirtschaftlich kontraproduktiven Massenarbeitslosigkeit. Ohne eine Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Lohnquote und damit Senkung der Profit- beziehungsweise Mehrwertquote wird dies aber nicht zu haben sein. Hier schließt sich dann der wirtschaftliche Kreislauf. Das neoliberal zu den Profiten umverteilte Geld fließt nicht mehr spekulativ an die Kapitalmärkte ab, sondern verbleibt sinnvoll für Konsum und Investitionen in der produzierenden Wirtschaft und schafft Arbeit, wenn auch diese für Vollbeschäftigung nicht mehr hinreichend sein wird. Dafür wird dann die Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich verkürzt, und in Zukunft werden die Produktivitätszuwächse – auch die aus der Digitalisierung (als Digitalisierungsdividende) – gerecht zwischen Kapital und Arbeit aufgeteilt.
Aber etwas Entscheidendes muss noch hinzukommen: Die private Wirtschaft ist durch eine Verfassungsänderung zu demokratisieren. Die hier vorliegende einseitige Herrschaft der Kapitaleigner über den Kapitaleinsatz und die Gewinnverwendung ist endlich zu beenden. Die arbeitenden Menschen müssen in den Unternehmen gleichberechtigt bei allen betriebswirtschaftlichen Entscheidungsprozessen mitentscheiden können. Diese Forderung basiert nicht auf einer ethischen oder moralischen, sondern auf einer rein ökonomisch-rationalen Deduktion. Denn ohne den arbeitenden Menschen ist jede Fabrik, und sei sie auch noch so durchrationalisiert, allenfalls ein Museum. Und die einzelwirtschaftliche Produktionsfunktion generiert ohne die menschliche Arbeitskraft als Input keinen Output.