Westlichen Ökonomen kommt die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft seit 1945 reichlich absurd vor. Politologen loben hingegen dieselbe Landwirtschaft als einen späten Erfolg der DDR. Diese widersprüchliche Einschätzung ist einer näheren Betrachtung wert.
Das Territorium der späteren DDR war bis 1945 in großen Teilen durch Rittergüter geprägt, großflächige Agrarunternehmen, die sich im Besitz einer Kaste stockreaktionärer, traditionell demokratiefeindlicher Adelsgeschlechter befanden. Eine Entmachtung dieser Kaste stand längst an, wäre eigentlich im Zuge der Durchsetzung bürgerlicher Verhältnisse in Deutschland fällig gewesen. Eine Bodenreform, also die Aufteilung dieser Güter unter landlose Bauern und Landarbeiter, wurde keineswegs nur von der politischen Linken angestrebt. Tatsächlich umgesetzt wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich in der sowjetischen Besatzungszone.
In der DDR war es immer schwer vermittelbar, wieso man zuerst im Zuge der Bodenreform die feudalen Landgüter in winzige Einzelparzellen zerlegte und später die neuen Besitzer nötigte, ihre Einzelbauerwirtschaften wieder zu Großbetrieben zusammenzufassen. Letzteres hatte eine volkswirtschaftliche Logik: Große Flächen lassen sich effektiver bewirtschaften als winzige Parzellchen. Tatsächlich hätte es – langfristig gesehen – des zum Teil heftig ausgeübten Druckes gar nicht bedurft. Die Mehrzahl der im Zuge der Bodenreform entstandenen Kleinwirtschaften war unrentabel. Viele Neubauern hatten einen Zusammenschluss ihrer Flächen in Gestalt von Agrargenossenschaften längst von sich aus angestrebt, noch bevor sich die SED des Prozesses annahm und aus der »sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft« ein Politikum machte. Im Jahre 1988 bewirtschafteten dann 3855 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) 86,4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der DDR. Eine weniger bedeutende Rolle spielten die 465 Volkseigenen Güter (VEG), die nur 7,3 Prozent der Agrarfläche besaßen. 5,4 Prozent der Flächen befanden sich noch immer in privater Nutzung.
Nach Abschluss der Kollektivierung war die ostdeutsche Landwirtschaft vergleichsweise effizient. Der Industriestaat DDR exportierte Agrarprodukte, während das Nachbarland Polen – wo die Bauern größtenteils auf ihren Kleinparzellen kleben geblieben waren – Lebensmittel importieren musste.
Nach einer schwierigen Anfangsphase wurde das in der DDR praktizierte Modell kollektiver Bearbeitung von genossenschaftlichem Eigentum von der Mehrheit der Landbevölkerung akzeptiert. Die Landreform der Nachkriegszeit sowie der Zusammenschluss der Einzelbetriebe zu Agrargenossenschaften wurde auch von keiner der im Herbst 1989 entstandenen Bürgerbewegungen grundsätzlich in Frage gestellt; mehrheitlich gefordert wurde damals eine »ökologiegerechte Agrarproduktion«. Dies allerdings nicht ohne Grund: DDR-Technokraten erzielten Produktionserfolge nicht selten unter Missachtung der Umweltgesetzgebung.
Die Demokratische Bauernpartei Deutschlands – ehemals jede Direktive abnickende Blockflöte, jetzt frisch geläutert zur demokratischen Musterpartei – erklärte in ihrem am 27./28. Januar 1990 verabschiedeten Wahlprogramm, die »Grundorientierung auf genossenschaftliches und staatliches Eigentum in der Landwirtschaft [habe] sich als richtig erwiesen«. Weiterhin äußerte sie im besagten Programm, sich »nie mehr einer anderen Partei unterordnen« zu wollen« – und stürzte sich wenige Monate später in die starken Arme der westdeutschen CDU.
Bodenreform und Kollektivierung wurden erst von westdeutschen Politikern offen in Frage gestellt. Beobachter vermuteten in den damals losgetretenen Kampagnen den Einfluss von Lobbyisten des westdeutschen Bauernverbandes. Der fürchtete nicht ohne Grund die Konkurrenz der großflächigen ostdeutschen Agrarbetriebe und machte sich für deren Zerschlagung stark. Gelungen ist das allerdings nicht. Nach Verabschiedung des Treuhandgesetzes im Juni 1990 gingen den ostdeutschen Agrarbetrieben zwar die Eigentumsrechte verloren. Das ebenfalls im Juni 1990 verabschiedete Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG) ließ ihnen aber die Wahl zwischen der Auflösung in bäuerliche Einzelwirtschaften oder der Neugründung in einer bürgerlichen Rechtsform. Als Ergebnis heftig tobender Auseinandersetzungen – Beobachter sprachen etwas überspitzt von einem in Ostdeutschland tobenden »Bauernkrieg« – gründeten sich die meisten ehemaligen LPGs in Gestalt einer eingetragenen Genossenschaft, einer GmbH oder einer GmbH & Co. KG neu. Bei einigen Genossenschaften misslang allerdings aus formaljuristischen Gründen diese Umwandlung; sie befinden sich zum Teil bis heute »im Stadium der Liquidation«.
Hatte die Vernunft also ausnahmsweise einmal gesiegt?
Eher nicht. Erst einmal hatten in der DDR die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale und kulturpolitische Funktion gehabt. Die Verwaltungsapparate der LPGs betrieben Kindergärten, Erholungsheime, medizinische Zentren, Kulturhäuser, bauten und warteten Straßen und Kläranlagen. Diese Funktion wurde von den Nachfolgeunternehmen stark reduziert wahrgenommen. Was nicht verwundern kann: Kapitalistische Unternehmen sind unabhängig von ihrer Rechtsform grundsätzlich nur auf das Erzielen von Gewinn ausgerichtet. Nach 1990 kam es demzufolge in den Agrargebieten Ostdeutschlands zu einem rapiden Verfall der öffentlichen Infrastruktur. Zahlreiche Dörfer sind auf dem besten Wege, von der Landkarte zu verschwinden.
Zweitens verband man die Transformation der Genossenschaftsbetriebe mit einem rabiat durchgezogenen Arbeitskräfteabbau. Unter dem Zwang, wirtschaftlich zu arbeiten, wurden die neugegründeten Agrarunternehmen gnadenlos durchrationalisiert. Die Zahl der Beschäftigten schrumpfte massiv, bis zu 90 Prozent der ehemaligen LPG-Bauern verloren ihren Arbeitsplatz. Viele gingen in vorgezogenen Ruhestand, andere vermehrten die Zahl der Arbeitslosen oder verließen wegen Jobsuche die Region.
Und drittens kam es zu einer heftigen sozialen Ausdifferenzierung der zuvor weitgehend egalitären ostdeutschen Agrarbevölkerung. Schon in der DDR war nur etwa die Hälfte der von den LPGs bewirtschafteten Flächen tatsächlich im Besitz der Genossenschaftsmitglieder gewesen; der Rest war auf der Grundlage von Pachtverträgen genutzt worden. Diese Pachtverträge hatten nach dem Ende der DDR keinen Bestand und mussten neu abgeschlossen werden. Gleichzeitig resultierte aus der erzwungenen Übernahme von Altschulden durch neugegründete Unternehmen eine heftige Verunsicherung der Beschäftigten. Nicht wenige Vorsitzende und Verwaltungskader der sich auflösenden LPGs – oft Mitglieder und Funktionsträger der ehemaligen Blockparteien – nutzten diese Verunsicherung aus, um die Mehrzahl der Bauern aus den in Gründung befindlichen Nachfolgeunternehmen herauszukaufen. Die Methoden, mit denen man vorging, werden von Zeitzeugen als Nötigung und Erpressung bezeichnet. Aus solchen Gaunerstreichen resultierten dann über Jahre andauernde juristische Auseinandersetzungen.
Hatten die LPGs meist Hunderte von Mitgliedern gehabt, so waren die Geschäftsanteile der Nachfolgeunternehmen oft im Besitz von nur einer Handvoll Leute. Diese wurden meist binnen weniger Jahre steinreich, während ein Großteil der ehemaligen LPG-Bauern mit geringen Abfindungszahlungen und Pachtgebühren abgespeist wurde. Besonders in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg beherrschen neureiche Agrarbarone mittlerweile ganze Landkreise, kontrollieren die Behörden, terrorisieren Bürgerinitiativen und Umweltschutzverbände.
Während des Unterganges der DDR wurde häufig die Befürchtung geäußert, die nach 1945 enteigneten Junker kämen jetzt zurück. Tatsächlich waren es nur wenige Adelsgeschlechter, die nach 1990 versuchten, wieder im Osten Fuß zu fassen. An die Stelle der alten Rittergutsbesitzer trat eine neue Kaste von Einheitsgewinnern.