Bei Chris Dercon & Co. läuft aber auch alles schief. Die neue Leitung lässt keinen Fauxpas aus, um sich zu blamieren und zu demontieren. Da hat die Marke »Volksbühne Berlin« mit Simone Kermes nun endlich mal einen echten Weltstar in ihrem »Spielplan« genannten Veranstaltungskalender stehen – auch wenn es weder Premiere, noch eigene Produktion, geschweige Theater ist, sondern nur ein Gastauftritt –, doch hätte dies zu den Weihnachtsfesttagen eine glänzende Gelegenheit geboten, Format zu beweisen (zumal wegen eines Wasserschadens die Vorstellungen in der Deutschen Oper ausfallen mussten). Aber ganz im Gegenteil! Die Volksbühne und namentlich Hausherr Dercon verpassen die auf dem Silbertablett servierte Chance, sich mit Charme und Glamour den Berlinern zu präsentieren. Der Abend war seitens Öffentlichkeitsarbeit, Werbung und Dramaturgie erschütternd lieblos betreut – und man fragt sich ratlos, wofür die vielen Gelder dort eigentlich ausgegeben werden?
Der Abend der Kermes hieß »Metamorfosi« und führte mitreißend vor, zu welchen Verwandlungen die zum Teil jahrhundertealten Melodien und Rhythmen immer von neuem ergiebig sind, zündend und lebensprühend wie einst. Vom ersten Takt an waren die Musiker – trotz gähnender Leere im Parkett – in Hochform und hatten keine Mühe, die Anwesenden in Bann zu schlagen. Jazzig unterlegt mit Klavier (Daniel Heide), Kontrabass (Matze Eichhorn) und Schlagzeug (Jan Roth) war trotzdem jede Note von Monteverdis Madrigal »Amor« erkennbar und konnte in dieser Version den ihm innewohnenden Rhythmus frei entfalten: Simone Kermes sang den Originalpart einfach vollkommen – und inbrünstig wie ein Liebesduett in den sich umschlingenden Kantilenen mit der E-Violine ihres »special guest« Jasser Haj Youssef. In der Tat hatte das moderne Klangbild den gewohnten Barockstrukturen nichts anhaben können, sondern ließ sie nur in neuem Licht aufstrahlen. Und wenn das von solchen Vollblutmusikern mit so viel Freude geleistet wird, kann der Zauber nicht ausbleiben! So ging es durch die Folge, eine musikalische Zeitreise, mit Tarquinio Merulas Ciaccona »Su la cetra amorosa«, dann weiter französisch und zu stürmischem Triumph mit dem marschartigen Air »Quelles beautés, Ô mortels« von Antoine de Boësset. Als instrumentales Zwischenspiel folgte eine Jazz-Improvisation über die bekannte Siciliano-Melodie der Flötensonate BWV 1031. Und nach Henry Purcells betörend schöner »Music for a while« ließ La Simone die Zeit stillstehen mit dem unglaublich berührend und vollkommen gesungenen Gebet »Alto Giove« (aus der Oper »Polifemo«), das der Neapolitaner Nicola Porpora einst für den Star-Kastraten Farinelli schrieb. Wer schon außer eingefleischten Liebhabern wird diese Arie erkannt haben, die doch eines Händel oder Vivaldi würdig wäre! Brava! Mit Vivaldi setzte Kermes denn auch ein wahres Vokalfeuerwerk: »Agitata da due venti« (aus »Griselda«). Tobender Applaus! Dann führten sie und ihre Mitstreiter gemeinsam die Originalkomposition des Tunesiers Jasser Haj Youssef über die jüdische Weise »Wenn ich mir was wünschen dürfte« auf. Und da muss man einfach gesehen haben, wie die Kermes am Musizieren der anderen teilnimmt, in den Werkstrukturen innerlich mit aufgeht! So wirkt ein wahres Ensemble!
Der zweite Teil begann mit einer Jazzversion von »Willst du dein Herz mir schenken« nach Stölzel & Bach. Kermes sang sodann Händels Lamento-»Hit« »Lascia ch‘io pianga« (aus »Rinaldo«) und dann noch eine Vivaldi-Arie: »Son qual nave«. Welche Sinnlichkeit, welche Leidenschaft! Das Programm war geradezu genial zusammengestellt, denn gerade in diesem Rahmen zeigte sich die überragende Meisterschaft von Leonard Bernsteins Kunigunde-Arie »Glitter and be gay« aus »Candide«. Bewundernswert ist und bleibt, wie Kermes die Belcanto-Kunst des Piano beherrscht und durch alle Lagen gleichmäßig weich und gefühlvoll klingt. Glücklich, wer das miterleben durfte! Jeder Moment ein Höhepunkt, war auch die zweite Originalkomposition des Abends von Youssef perfekt gestaltet: ein aramäischer Gesang über den Sonnenaufgang. Der Komponist spielte seine elektrisch verstärkte Viola d’amore, und er hätte sich keine großartigere Interpretin dazu wünschen können als Simone Kermes.
Solche Hingabe, solchen Elan, solche Liebe zur Kunst – und so einen sympathischen Draht zum Parkett hat man in diesem Saal seit dem letzten »Baumeister Solness« sicher nicht mehr erlebt! Da brannte die Luft! Auch wenn, anders als zu jener letzten Castorf-Vorstellung, das Auditorium nicht bis auf den letzten, heiß umkämpften Platz besetzt war. Kaum zu einem Drittel sind die Karten verkauft gewesen – einfach zum Fremdschämen. Es fehlten nicht nur die Berliner Musikfreunde und Opernfans – es fehlte das gesamte Leitungsteam. Herr Dercon weilte indessen vermutlich zuhause, private Weihnacht zu feiern, ahnungslos und/oder desinteressiert wie seine Crew, dass da gerade »die Lady Gaga der Barockmusik« auf seiner Bühne zugange ist. Keine Begrüßung am zweiten Weihnachtstag für den Gast – weder Einführung, noch Programmzettel – keine CDs, nichts. Beim Schlussapplaus gab es nicht einmal eine Blume für die durchweg erstrangige Künstlergruppe, die sich allerdings nach der ersten Zugabe für die Einladung bedankt hatte. Das Publikum feierte sie frenetisch und wurde mit zwei weiteren Zugaben belohnt: »Haben Sie noch Lust? Ich habe noch Lust!« plauderte Kermes munter, bevor sie abschließend mit allen gemeinsam »Maria durch ein‘n Dornwald ging« sang – zum Niederknien, unvergesslich die schneidenden Töne der Geige in der zweiten Strophe.
Da war Kunst in der Volksbühne – bloß nicht von der Volksbühne! Nach Monaten theatralischer Leere, Affronts und verpuffter »Sensationen« am Rosa-Luxemburg-Platz (um von den zig Millionen verpulverter Steuergelder lieber zu schweigen) kann die Volksbühne Berlin – sich in Geld und Selbstmitleid suhlend – von den Berlinern nicht länger ernsthaft »Geduld« und »Offenheit« fordern. Schon gar nicht mit Unterstützung der Polizei. Wofür denn? Wären noch Wunder zu erwarten? Aber selbst für Wunder bedarf es einiger Fachkenntnisse – und des glücklichen Moments. Der dürfte vertan sein. So bleibt einem nur noch mit Peter Hacks festzustellen: »Wo nix drin ist, ist nix drin.«