Vor neun Jahren habe ich in dieser Zeitschrift die Entfernung der Namen von Symbolgestalten des deutschen Widerstandes gegen Krieg und Naziterror von ICE-Zügen der Deutschen Bahn scharf kritisiert und als politischen Skandal bezeichnet. (»Namenszüge«, Ossietzky, 2/2009). Bahnvorstand Hartmut Mehdorn hatte den Vandalenakt allen Ernstes mit dem Hinweis begründet, die Namen seien zu lang. Entfernt wurden unter anderem die Namen von Sophie Scholl, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Carl von Ossietzky. An ihre Stelle traten Ortsnamen wie Jever und Oschatz.
Geschehen ist das während der Regierungszeit des Sozialdemokraten Gerhard Schröder mit voller Rückendeckung durch Verkehrsminister Manfred Stolpe (SPD). Er verschanzte sich hinter dem Aktiengesetz, das jede Einflussnahme der Bundesregierung auf unternehmerische Entscheidungen der Bahn verbiete. Der von Sozialdemokraten ins Leben gerufene Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie« sah keinen Anlass zu öffentlichem Protest. Vorsitzender war seinerzeit der spätere Bundespräsident Joachim Gauck. Die Medien verloren kein Wort über den Skandal und bewahrten die Beteiligten damit vor öffentlichem Ungemach.
Dabei war es die Bahn selbst gewesen, die die Benennung von ICE-Zügen nach Personen der Zeitgeschichte Ende der 1990er Jahre in Szene gesetzt und um entsprechende Namensvorschläge gebeten hatte. Als eine neue Generation von ICE-Zügen über die Schienen rollen sollte, suchte sie abermals Taufpaten. Bahnkunden und engagierte Bürger reichten rund 19.400 Vorschläge ein. Eine durch zwei Historikerinnen verstärkte Jury siebte einhundert Namen heraus, von denen 25 in die engere Wahl kamen. Darunter Namen wie Konrad Adenauer, Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot, Thomas Mann, Karl Marx und Anne Frank. Diese Personen einte nach Darstellung der Bahn, dass sie »neugierig auf die Welt« gewesen seien.
Nach Bekanntgabe der Namen geschah Unbegreifliches: Während gegen Ende der 1990er Jahre die Entfernung des Namens von Sophie Scholl von einem nach ihr benannten ICE widerspruchslos hingenommen wurde, rief im Herbst 2017 die Benennung eines ICE4-Zuges nach Anne Frank einen Sturm der Empörung hervor, einen »Shitstorm der allerersten Kategorie«, wie eine Zeitung schrieb. Kernpunkt der Vorwürfe: Ein »Täterwerkzeug« dürfe nicht nach einem Opfer benannt werden. Das bezog sich auf die Züge der Deutschen Reichbahn, die Juden in die Vernichtungslager transportiert hatten. Danach dürfte es in Deutschland keine Sophie-Scholl-Schule und keine Anne-Frank-Schule geben. Auch die Schulen waren »Täterwerkzeuge«; sie lehrten während der Nazizeit den Hass auf die Juden und ebneten den Weg zu ihrer Ermordung.
In einer offiziellen Verlautbarung entschuldigte sich der Bahnvorstand. Es sei in keiner Weise beabsichtigt gewesen, das Andenken Anne Franks zu beschädigen. Vielmehr habe die Deutsche Bahn die Erinnerung an sie wachhalten wollen. Sollte sie dabei Gefühle verletzt haben, dann tue ihr das leid. Was die Verantwortlichen am meisten traf, waren die Reaktionen von Personen und Verbänden, die sich dem Andenken der Opfer des Holocaust widmen und nicht vergessen haben, dass die Bahn ihre Mitschuld an den Verbrechen der Nazis immer nur widerstrebend bekannt hat.
Mit der Benennung eines ICE nach Anne Frank vollzog die Deutsche Bahn eine Kehrtwende. Ich habe den Vorstandsvorsitzenden Richard Lutz gebeten, mich über die Beweggründe aufzuklären und ihm den eingangs erwähnten Ossietzky-Artikel geschickt. Im Antwortschreiben der Bahn heißt es, die neuen ICE-Fernverkehrszüge sollten »ganz im Sinne Ihrer Überlegungen« sukzessive die Namen bedeutender Persönlichkeiten erhalten. Hierbei sei auch der Name Anne Frank ausgewählt worden. »Nun zeigen aber die Reaktionen, dass die öffentliche Wahrnehmung dieser Auswahlentscheidung von uns falsch eingeschätzt worden ist. Deshalb haben wir nunmehr alle geplanten Zugtaufen zurückgestellt. Aufgrund der Debatten werden wir unser gesamtes Zugnamenkonzept einer erneuten kritischen Prüfung unterziehen. Dabei werden wir Ihren Hinweisen Rechnung tragen.«