Im August 2018 führte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein Interview mit dem »EU-Enthusiasten« Robert Menasse über das libidinöse Objekt seines Wirkens und Schaffens. Menasse, selten Denker, meist Dichter, den das bornierte wörtliche Zitieren nicht kümmert, »wenn es [ihm] um den Sinn geht« (Ansgar Graw: »Was kümmert mich das Wörtliche«, in: Welt, 23.12.2018), diagnostiziert, dass »in Brüssel eine Bürokratie in neuer historischer Qualität entstanden ist.« (Paul Ingendaay: »Nie wieder Realismus!«, in: FAZ, 22.8.2018) Worin gründet diese neue historische Qualität der EU-Bürokraten? Menasse gibt Auskunft: »Hier arbeiten Menschen, die keinen Eid auf einen Staat, sondern auf eine Idee geleistet haben.« Zwar mochte Menasse im Gesprächsverlauf nicht präzisieren, um welche Art von Idee es sich dabei handelt, doch vermag ein Blick in den Südosten des Kontinents, genauer: nach Griechenland, wo die EU in den letzten Jahren ein erstaunliches Arbeitspensum an den Tag gelegt hat, Aufschluss darüber geben, welche Idee die EU bei ihrem Tun leitet.
Griechenland, das 1981 – kaum der Militärdiktatur entronnen – der Europäischen Gemeinschaft beitrat, trug die typischen Merkmale einer peripheren politischen Ökonomie: Absatzmarkt für Industrieprodukte aus dem europäischen Zentrum, Lieferant von Rohstoffen und Agrargüter, beherrscht von einer Kompradoren-Bourgeoisie. Die Aufnahme in die Euro-Zone bescherte Griechenland dank sinkender Zinsen einen kurzfristigen Wirtschaftsboom, welcher von der 2007 einsetzenden Krise des Weltfinanzsystems unsanft beendet wurde; die als Banken firmierenden Glücksspielhäuser des Westens hatten sich auf den Kreditmärkten verspekuliert, woraufhin die jeweiligen Staaten mittels sogenannter Bankenrettungsprogramme die uneinbringlichen Forderungen und privaten Schuldenberge auf ihre Bücher nahmen, das heißt eine Sozialisierung von Verlusten betrieben. Gerade noch dem Abgrund entronnen, begannen »die Märkte« sogleich darauf zu spekulieren, ob die Staaten der Euro-Peripherie noch fähig sind, ihren frisch akkumulierten Schuldenberg zu bedienen. Die Zinsen auf Staatsanleihen begannen zu klettern; Griechenland musste im Frühjahr 2010 statt sechs Prozent plötzlich über zwölf Prozent auf langlaufende Anleihen zahlen. Der Zinsschock, zu dem sich noch ein riesiges Handelsdefizit gegenüber den anderen Euro-Staaten gesellte, hatte zur Folge, dass Griechenland seine Schulden nicht mehr bedienen konnte; das Land war de facto bankrott.
Statt nun Griechenlands Gläubiger – darunter zahlreiche deutsche und französische Banken – das in Sonntagsreden gepriesene Kapitalmarktrisiko tragen zu lassen und die Kredite abzuschreiben, entschloss sich die aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) bestehende »Troika«, einem zahlungsunfähigen und wirtschaftlich am Boden liegenden Griechenland einen Kredit über 110 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, damit das Land seine ausstehenden Schulden bedienen konnte und die fragilen Bankensysteme der Gläubigerstaaten nicht gefährdet wurden. Gemäß dem Kochbuch der »schwäbischen Hausfrau«, die eigentlich eine uckermärkische Illusionskünstlerin ist, wurde dem geplagten Land überdies eine ökonomische Rosskur verordnet: drastisches Senken von Löhnen, Preisen und öffentlichen Defiziten, Steuererhöhungen (vor allem Konsumsteuern) und Privatisierung öffentlichen Eigentums.
Überraschenderweise führten die seriellen Sparprogramme nicht dazu, dass Griechenland wirtschaftlich gesundete. 2015 wählten die Griechen die sozialistische Syriza mit dem Auftrag in die Regierung, dem Elend der Austerität ein Ende zu bereiten und einen Neuanfang mit den europäischen Partnern zu finden. Die europäischen Institutionen führten diese Gespräche im Geiste eines spezifischen EU-Humanismus; so schilderte etwa der griechische Finanzminister Varoufakis bei Verhandlungen dem Leiter des Rettungsfonds der Eurozone (ESM), Klaus Regling, die Bredouille, in der sich Griechenland befand: »Wenn wir, wie erwartet, in ein oder zwei Wochen nicht mehr genug Geld haben, um die nächste Rate an den IWF zu begleichen und Gehälter und Renten zu bezahlen, was sollen wir Deiner Meinung nach dann tun, Klaus? Die Wahl wird sein, entweder unsere Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Alten und Schwachen oder die gegenüber dem IWF nicht zu erfüllen.« Für einen guten und aufrechten Sozialdemokraten wie Klaus Regling konnte es nur eine Antwort geben: »Ihr dürft auf gar keinen Fall gegenüber dem IWF zahlungsunfähig werden. Verschiebt lieber die Rentenzahlungen.« (Yanis Varoufakis: »Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment«; Deutsch von Ursel Schäfer, Anne Emmert, Claus Varrelmann, München 2017)
Nachdem die Griechen am 5. Juli 2015 per Volksabstimmung sich mit großer Mehrheit gegen ein neues, von Berlin und Brüssel ausgehecktes »Sparprogramm« ausgesprochen hatten, übte die Troika massiv Druck auf Athen aus, der griechische Ministerpräsident Tsipras verwandelte sich gewissermaßen über Nacht von einem Sozialisten in einen Sozialdemokraten und verkaufte mit seiner Zustimmung zu einem noch drakonischeren Memorandum sein Volk an die Troika.
Das »Rettungsprogramm« lief im August 2018 aus, und die Ergebnisse des Wirkens der von Menasse gerühmten europäischen Bürokratie können nun besichtigt werden: Das Bruttosozialprodukt Griechenlands schrumpfte seit Beginn der Krise um 25 Prozent und verharrt in etwa auf diesem Niveau – die größte wirtschaftliche Katastrophe in einem Land, welches nicht von einem Krieg beziehungsweise Bürgerkrieg heimgesucht wurde; betrug der Schuldenberg zu Krisenbeginn knapp 80 Prozent des Bruttosozialproduktes, so belief er sich 2018 auf rund 180 Prozent. Athen steht bei der Troika gegenwärtig mit 260 Milliarden Euro in der Kreide – und die Troika wird unter neuem Namen über die nächsten Jahrzehnte, möglicherweise sogar bis ins nächste Jahrhundert die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik Athens kontrollieren und mitbestimmen, um Zins und Tilgung aus dem Land zu pressen. Die Arbeitslosenquote beträgt immer noch knapp 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist etwa doppelt so hoch. Profitable öffentliche Einrichtungen wurden zu Dumpingpreisen privatisiert (Häfen, Flughäfen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke et cetera). Statt der Schulden schrumpfte die Bevölkerung während der letzten acht Jahre um drei Prozent (Gründe: niedrigere Geburtenrate, höhere Sterblichkeitsrate vor allem bei über 70-Jährigen, verstärkte Emigration). Über ein Fünftel der Bevölkerung (22 Prozent) lebt in starker Armut, 2009 waren es noch zwei Prozent.
Die Idee, von der Menasse sprach, welche die europäischen Institutionen beseele, ist nun mehr als deutlich geworden; eine zu Beginn der Griechenland-Krise von Bundeskanzlerin Merkel ausgesprochene Klippschulweisheit eignet sich bestens dazu, diese Idee in Worte zu fassen: »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.« Der Euro und mit ihm »das deutsche Imperium europäischer Nation« (Wolfgang Streeck) haben noch immer Bestand; dafür wurden im Gegenzug viele Griechen ihrer Freiheit, ihres Eigentums, ihrer Gesundheit und allzu oft auch ihrer Heimat und ihres Lebens beraubt. Doch ein zivilisatorischer Fortschritt lässt sich nicht leugnen: Musste das letzte Mal, als Griechenland kolonisiert wurde, noch die Wehrmacht in Marsch gesetzt werden, so genügten dazu dem deutschen Kanzleramt heutzutage die EZB und einige europäische Bürokraten in Maßanzügen.
Anfang Januar besuchte Merkel ihren Satrapen Tsipras und besichtigte vor Ort die Erfolge ihrer Politik. Der Text, den sie bei der Pressekonferenz aufsagte, könnte – angesichts der tatsächlichen gesellschaftlichen Lage – ob seiner Absurdität aus der Feder Eugène Ionescos stammen: Die Geschäftsführerin des deutschen Export- und Monopolkapitals orakelte von einer schwierigen Zeit, einer »Zeit der Programme«, »in der vor allen Dingen die Menschen in Griechenland schmerzhafte Strukturreformen mit ganz konkreten persönlichen Einbußen durchleben mussten, oft auch gerade für die, die keine Arbeit haben« und behauptete kontrafaktisch, dass der eingeschlagene Weg weitergegangen werden müsse, »weil nur dadurch die Arbeitslosigkeit weiter sinken und die Wirtschaft sich weiter entwickeln wird«. Wortkarg wurde Merkel erst, als es um die Reparationen ging, die Deutschland Griechenland noch immer dafür schuldet, es während des Zweiten Weltkriegs geplündert und zerstört zu haben. Die knapp 300 Milliarden Euro scheinen für Merkel kaum der Rede wert und mit der billigen Formel von der historischen Verantwortung, der man sich vorgeblich bewusst sei, und dem feuchten Händedruck und einigen klebrigen Worten des Bundespfaffen Gauck bei seinem Staatsbesuch 2014 abgegolten. »Wer die Macht hat, hat das Recht. So einfach ist das in Europa.« (Jörg Kronauer)