Ist das nun ein absurdes Stück im Sinne von Beckett oder reiner Punk? Oder nur ein Event? Ich versuche, den Text ernst zu nehmen, werde immer wieder vor den Kopf gestoßen. Eine Uraufführung im Malersaal des Schauspielhauses Hamburg: »Rainer Gratzke oder Das rote Auto« von Jens Rachut, der selbst mitspielt und Regie führt. Bühnenbild: Raoul Doré – von ihm auch die grimmigen Zeichnungen im Programmheft wie das siamesische Doppeltier, das gegen sich selbst wütet. Den Rainer Gratzke spielt Josef Ostendorf, der sich schon mal überzeugend in Donald Trump verwandelt hat. Jetzt ist er ein armes Schwein, das jahrelang Pillen schluckte und Wässerchen als Testperson für eine Pharmafirma. Seine bullige Gestalt täuscht. Die Nebenwirkungen haben ihn krank gemacht, Metastasen wuchern in ihm, Medikamente dagegen nützten nichts. Er hat sich – freiwillig? – in ein Sterbehospiz eingeliefert, um kontrolliert die letzte Stunde zu erleben, genauso lange wie die Aufführungsdauer des Stücks. Er wird der letzte Kunde sein – oder Patient? Dieses Hospiz muss auch sterben, der ehemalige Bunker soll danach abgerissen werden. Er steht neben einem Verladebahnhof – der Blick aus dem Fenster für Gratzke auf die Abgeschobenen: Autos. Dieses rote Auto (vom Titel), es ist die Ausnahme, auffallend, ein »Außenseiter, der wird gemobbt«, bekennt Gratzke am Schluss.
Was hat er erlebt? Viel erfahren wir nicht. Einmal spricht er lakonisch über sein trauriges Frühstück: »Wenigstens einen Kaffee. Bekomme nichts rein, dadurch auch nichts runter. Du musst aber was essen, sagte meine Frau – die ich nicht hatte.« Dieser Märchenton ist Realität. »Wenigstens einen Apfel, bat meine Tochter – die es nicht gab.« Der Vater ruft aus dem Himmel Absurdes. »Mutter war nicht da, weil ich sie nicht kannte …« Seine Gefährten, ein Stoffhase oder die Vögel draußen. Er beobachtet sie, einer hat nur ein Auge. Die Vogelkacke beschäftigt ihn, »wer macht das weg?« Dann ein Satz, der zum Punk nicht so recht passen will: »Das Unterlegene, das will beachtet werden.« In seiner schmuddeligen Schlafanzughose – nicht gerade ein Siegertyp.
Seine Vertrauten? »Da seid ihr ja wieder, ihr Metastasen«, sagt er so leichthin. Im Video hinten regnen bunte Pillen in seinen offenen Mund. Im Hospiz ist er nicht allein, eine Schwester (Gala Othero Winter), die alles managt, zupackend, wenn es nötig ist, aufreizend umtriebig, mit Pagenperücke, und der Pfleger Bobby (Jens Rachut) leisten Gratzke Gesellschaft. Was soll dieser »Pfleger«, der nicht pflegt, ein Wilder mit Keule, in Militärhosen, oder ist es gar ein Affe? Ein haariger Gorilla oder ein Verrückter, der nie spricht. Denkt er überhaupt? Der Autor, der ihn spielt, nannte ihn »Neandertaler«. Nun, es gibt ja Pfleger, die nicht helfen, die nur in den Tod befördern. Aber unauffällig. Im Video tritt ein Wunderheiler auf, der inmitten der Natur lebt. Gratzke kann er nicht helfen.
Irgendwann erscheint ein Typ mit Sonnenbrille, Blindenbinde und blonder Tolle im Gecken-Outfit: James (Jonas Landerschier). Es könnte dieser unsterbbare Heino sein. Er singt und betätigt ein kleines grünes E-Piano, sucht sich ein Refugium im Wandschrank. Wie eine Krippenfigur anzusehen. Punk eben. Auch die Schwester singt, Vermerke aus den Krankenakten trägt sie vor, immer den gleichen Text: »gestorben am«, dann ergänzend: »gestorben an«, mit hoher Stimme. Woran erinnert das? An die verschleiernden Todesbescheinigungen der Euthanasieärzte – woran sonst? Und alle lächeln. Es werden immer mal wieder Tote durch den Raum gefahren und in einem besonderen Zimmer abgestellt, wo sie in der Feuerglut hell auflodern, viel Rauch und Ruß erzeugend. Ein Pfaffe im Rollstuhl, ohne Kopf, aber mit Rosenkranz um die Hand gewickelt, wird hereingeschoben. Gratzke flüstert dem Kopflosen mit weißem Tuch über der Soutane ins nicht vorhandene Ohr: »Wenn Gott den Mumm hat, soll er reinkommen und gegen mich antreten …« Auch der Pfaffe verglüht im Feuer. »Berufsversager«, ruft ihm Gratzke nach. Der Cocktail ist getrunken, warten, rauchen. Die genau abgemessene Stunde, die dem letzten Heimbewohner noch bleibt, sie zieht sich hin. Und er erzählt – wem? – er habe sich sogar mal »künstlerisch betätigt«. Gedichte geschrieben, die dann »analysiert« wurden. »Das Gürteltier: Panzer, Panzer, immer wieder Panzer«. Eine Zeichnung dazu von Doré im Programmheft.
Einen Arzt braucht dieses Hospiz nicht mehr. Aber da gibt es eine Figur, die »Wandstrom-Kampfgeist« genannt wird (Emanuel Bettencourt), der taucht immer mal überraschend auf. Ganz zart und flüchtig wie ein Wirbelwind weht er herein, sich verrenkend, schnell wieder verschwindend, ist nicht zu fassen. Trägt einen Kapuzenmantel, der das Gesicht verdeckt – ein Sensenmann? Eigentlich das Gegenteil vom Tod in diesem Sterbehospiz. Hier ist doch alles geplant, vorhersehbar. Es dröhnt von weitem. Die Schwester flüstert: »Geister«. Gratzke will noch Musik und: »Vielleicht mag er mich ja nicht und haut wieder ab, der Sensenmann«, sagt er ganz uncool. Durchs offene Fenster Rufe von unten: »Prost Neujahr, Prost auf den Krieg.« Sind die Stimmen von draußen Wirklichkeit oder Erinnerungen Gratzkes? »Oberstleutnant, ergeben Sie sich« – wer sagt das? Das Wort »Vietnam« lässt den wilden Pfleger zur Keule greifen, er verwandelt sie in einen Morgenstern oder eine Panzerfaust? Kam der Schuss durchs Fenster? Pfleger Bobby liegt im Blut. Die Schwester murmelt etwas von »Affenhimmel« und öffnet die Tür zum Verbrennungsraum, sie begleitet ihn hinein.
Gratzke kürzt seine Rest-Lebenszeit ab zum Schluss, stürzt sich rücklings aus dem Fenster. Ein »selbstbestimmter« Tod?