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Instrumentalisierte Chemiewaffenkontrolle?  (Joachim Guilliard)

Die Manipulationen am Bericht der Organisation zum Verbot von Chemiewaffen (OPCW) über einen angeblichen Giftgasangriff in Duma, die von drei an den Untersuchungen beteiligen Inspektoren enthüllt wurden (s. Ossietzky 24/2019), fügen sich ein in eine ganze Reihe von Fällen, bei denen die USA und ihre Verbündeten Einfluss auf die OPCW zur Legitimierung ihrer Politik nahmen.

 

 

In Vorbereitung des Irakkriegs kaltgestellt

Der Ruf konsequenter Unparteilichkeit, den die OPCW anfänglich hatte, war schon vor den Enthüllungen angekratzt. So setzte die Administration von George W. Bush 2002 in Vorbereitung des Irakkrieges die Absetzung des ersten OPCW-Generaldirektors, José Bustani, durch.

 

Der brasilianische Diplomat war gerade mit großem Lob für eine neue fünfjährige Amtszeit wiedergewählt worden. Seine kurz vor dem erfolgreichen Abschluss stehenden Bemühungen, Bagdad zum Beitritt zur Chemiewaffenkonvention zu bewegen, kamen jedoch den Falken in Washington in die Quere. Schließlich wollten diese ihren Irak-Feldzug mit einer angeblichen Bedrohung durch verheimlichte Massenvernichtungswaffen des Irak rechtfertigen. Nach dem Beitritt zur Konvention wäre das Land denselben Inspektionen unterworfen worden wie alle anderen Mitgliedstaaten. Unabhängige OPCW-Inspektoren hätten die westlichen Militärs und Rüstungsexperten abgelöst, die hauptsächlich die UNSCOM-Teams bildeten und häufig ‒ wie bekannt geworden war ‒ auch Spionagetätigkeiten ausübten. Die Mär von Massenvernichtungswaffen wäre unhaltbar geworden.

 

José Bustani gehört zum Kreis derer, denen sich der OPCW-Whistleblower »Alex« im Oktober 2019 anvertraut hat (s. Ossietzky 24/2019). Der von ihm mitunterzeichneten Erklärung des Forums fügte Bustani noch hinzu: »Die überzeugenden Beweise für regelwidriges Verhalten bei der OPCW-Untersuchung des angeblichen chemischen Angriffs der Duma bestätigen Zweifel und Befürchtungen, die ich bereits hatte. Was ich in der internationalen Presse las, ergab keinen Sinn. Offizielle Untersuchungsberichte selbst erschienen mir bestenfalls inkohärent.«

 

 

Weitere fragwürdige Untersuchungen ‒ der Fall Khan Sheikhun

Inkohärenz und Einseitigkeit zeichneten auch die Untersuchungen zu früheren angeblichen Giftgasangriffen in Syrien aus. Das gilt insbesondere für den Angriff in Khan Sheikhun am 4. April 2017, bei dem über 80 Menschen ums Leben kamen. Die Parallelen zu Duma sind nicht zu übersehen.

 

Der Westen machte auch hier sofort die syrische Regierung für das Massaker verantwortlich, und US-Präsident Trump ordnete ‒ auch hier keine Untersuchung abwartend ‒ seinen ersten diesbezüglichen »Vergeltungsschlag« gegen Syrien an. Die US-Luftwaffe feuerte drei Tage später 59 Cruise-Missiles auf den syrischen Militärflughafen asch-Schaʿirat, von dem aus der Angriff angeblich gestartet worden sei.

 

Später rechtfertigte das Weiße Haus in einem als Bericht der »US-Geheimdienste« deklarierten Papier die Angriffe. Das Schriftstück erklärte es als erwiesen, dass »das syrische Regime einen Angriff mit Chemiewaffen, das Nervengift Sarin nutzend, gegen ihre eigene Bevölkerung durchgeführt« habe. Es stützte sich dabei im Wesentlichen auf drei Behauptungen: Der Angriff sei aus der Luft erfolgt, dabei sei Sarin eingesetzt worden, und nur die syrische Armee habe die Möglichkeit, sich Giftgas wie Sarin zu beschaffen.

 

Die Untersuchung des Vorfalls wurde schließlich vom UN-Sicherheitsrat dem Gemeinsamen Investigativmechanismus (Joint Investigative Mechanism, kurz JIM) übertragen, einem gemeinsamen Ermittlungsausschuss aus OPCW und UNO, für den die Arbeit der OPCW Fact-Finding Mission (FFM) die Basis bildete. In seinem Ende Oktober 2017 veröffentlichten Abschlussbericht bestätigte der Ausschuss dann auch die frühen Vorwürfe. Auch wenn ihr Bericht von vielfachem »vermutlich«, »wahrscheinlich« und »möglicherweise« geprägt ist, zeigten sich die Autoren am Ende überzeugt, dass die zusammengetragenen Informationen »klar beweisen« würden, dass Syrien für den Einsatz von Sarin in Khan Shaykhun verantwortlich gewesen sei. Das Giftgas sei durch eine aus einem Flugzeug abgeworfene Bombe freigesetzt worden.

 

 

Ein zweifelhafter Bombenkrater

Als wichtiger Beleg dafür dient dem JIM ein Krater in einer Straße im nördlichen Teil Khan Sheikhuns, der bereits in den ersten Fotos über den Vorfall als Einschlagloch des Angriffs präsentiert wurde. Dieser sei auch ihren Erkenntnissen nach mit großer Wahrscheinlichkeit von der Bombe verursacht worden, die das mutmaßliche Giftgas freisetzte.

 

Daran gab es jedoch früh starke und gut begründete Zweifel. Auf der Basis einer gründlichen Analyse des vorgelegten Bildmaterials hatte der emeritierte Professor Theodore A. Postol von der US-Hochschule MIT die These bereits in seiner Bewertung des US-Geheimdienstberichts als unplausibel zurückgewiesen. Der ausgewiesene Experte für Waffentechnologie und -kontrolle hielt es für wahrscheinlicher, dass der Krater von einer am Boden platzierten Bombe oder einer Artilleriegranate aufgerissen worden sei. Wie er ausführlich erläutert, könne die Stelle auch kaum der Ort des Angriffs gewesen sein. Der Krater liege an der nördlichen Spitze eines Dreiecks, in dem die Opfer gefunden wurden. Hätte sich das Giftgas von hier aus ausgebreitet, so hätten auch die Bewohner in der unmittelbaren Nachbarschaft betroffen sein müssen. Die Fotos von Opfern, die auf dem Boden liegend behandelt werden, würden auch eine ganz andere Umgebung zeigen als die um den Krater. Das Foto eines ungeschützten Mannes an seinem Rand, aufgenommen kurze Zeit nach dem angeblichen Angriff, belege zudem eindeutig, dass hier kein Sarin freigesetzt wurde. Sonst wären noch genügend Reste des Giftstoffs im Kraterloch verblieben, die ihn umgehend getötet hätten.

 

Auch wenn man Postols Schlüsse nicht für zwingend hält, so sind sie so gut begründet, dass sie auf alle Fälle hätten berücksichtigt werden müssen. Der JIM-Bericht geht jedoch nicht darauf ein, obwohl die Inspektoren die Möglichkeit nicht ausschließen konnten, dass der Krater durch eine auf der Straße platzierte »improvisierte Sprengvorrichtung« verursacht wurde. Dies wurde aber als weniger wahrscheinlich erachtet, da kein Augenzeuge entsprechende Vorbereitungen gesehen habe und ihnen die Schäden an umliegenden Gebäuden als zu gering erschienen. Ein Zeuge hatte allerdings berichtet, dass er gegen 7 Uhr durch eine Explosion geweckt worden sei, ohne dass er ein Flugzeug bemerkt habe. Die von Postol genannte Möglichkeit einer eingeschlagenen Artilleriegranate wurde nicht geprüft. Eine definitive Klärung war ohnehin nicht mehr möglich, da die örtlichen islamistischen Milizen den fraglichen Krater bald nach dem Vorfall zugeschüttet hatten.

 

Der investigative Journalist Gareth Porter führte später in seiner Kritik an den ersten von UN-Kommission und OPCW veröffentlichten Untersuchungsergebnissen eine Reihe weiterer gewichtiger Indizien gegen die These auf, der Krater sei von einer Chemiewaffe erzeugt worden. (»Have We Been Deceived Over Syrian Sarin Attack?« AlterNet, 11.9.2017) So versicherten ihm zwei ehemalige Spezialisten der US-Regierung, dass es keine chemische Waffe gebe, die einen so großen Krater erzeugen könnte. Außer zwei Metallteilen schwer definierbaren Ursprungs waren auch keine Reste einer solchen Bombe gefunden worden. Pierre Sprey, ein Luftfahrtingenieur, der viele Jahre im Verteidigungsministerium als Waffenanalyst gearbeitet hatte, bezweifelte daher ebenfalls, dass die fotografierte Szenerie am Krater echt war. Auf jeden Fall hätte man noch große Stücke der Bombe in seiner Nähe sehen müssen. Auf den Fotos, die ihn kurz nach dem Angriffszeitpunkt zeigen, waren aber nicht einmal Erd- und Asphaltbrocken zu sehen, die aus ihm herausgeschleudert worden sein müssten. Erfahrenen Inspektoren sollten diese irritierenden Details ebenfalls aufgefallen sein.

 

 

Sarin nie bewiesen

Auch Sarin als Ursache der Vergiftungen kann keinesfalls als bewiesen betrachtet werden. Die FFM hatte sich früh darauf festgelegt, das Nervengift aber letztlich nicht zweifelsfrei nachweisen können. Es könnte sich, so musste sie im Bericht einräumen, auch um andere Substanzen gehandelt haben, die ähnliche Bestandteile haben. Die fragwürdige Durchführung der Untersuchungen verstärkte die Zweifel. Da das Gebiet unter Kontrolle »einer gelisteten terroristischen Organisation (Nusra Front)« stand, wie es im JIM-Bericht heißt, führten die Inspektoren aus Sicherheitsgründen keine Untersuchungen vor Ort durch, sondern arbeiteten von der Türkei aus. Blutproben entnahmen sie Opfern, die in dortige Kliniken eingeliefert worden waren. Proben vom Boden, Material et cetera erhielten sie von einer nicht namentlich genannten Nichtregierungsorganisation, vermutlich die Weißhelme.

 

Niemand kann somit mit Sicherheit sagen, ob die an Vergiftung leidenden Patienten und die Proben tatsächlich von den angegebenen Orten stammten, und Manipulationen ausschließen. Von einer den Regeln entsprechenden Untersuchung unter Einhaltung der Kontroll- oder Sorgfaltsketten (»Chain of Custody«), kann ‒ wie im Bericht selbst eingeräumt wird ‒ keine Rede sein. Ausgewertet wurden die Proben zwar von Laboren, die nach ISO-Norm zertifiziert sind, jedoch dem Gesundheitsministerium der Türkei unterstehen, die wiederum eine Kriegspartei ist.

 

Mit den zur Verfügung stehenden Tests kann Sarin, das sich schnell zersetzt, nicht direkt nachgewiesen werden. Vielmehr können nur die bei der Zersetzung entstehenden Verbindungen gefunden werden. Im menschlichen Körper ist das vor allem Isopropylmethylphosphonat (IMPA). Ein positiver Test auf dieses Molekül ist jedoch kein Beweis, dass der Ausgangsstoff Sarin war, da IMPA auch Zerfallsprodukt anderer Verbindungen ist. Wenn beispielsweise Patienten, die nicht Sarin ausgesetzt waren, eine gesundheitlich unbedenkliche Dosis IMPA, das im Handel erhältlich ist, verabreicht worden wäre, würden sie, wie Porter ermittelte, in OPCW-Laboren ebenfalls positiv auf Sarin getestet werden.

 

 

Erste Opfer bereits vor dem Angriff

Da keine Augenzeugen vor Ort befragt werden konnten, ließen die Inspektoren »Rettungspersonal und Kommandanten nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen« zur Befragung anreisen, mit anderen Worten Angehörige der Weißhelme und Anführer der dschihadistischen Milizen, die das Gebiet kontrollierten. Es sind die Aussagen solcher fragwürdigen Zeugen, die letztlich laut Bericht unter anderem »der Hypothese Glaubwürdigkeit verleihen, dass die Freisetzung von Sarin im Bereich des Einschlagspunktes eingeleitet wurde«.

 

Darauf, wie widersprüchlich die erhaltenen Informationen eigentlich waren, weist der JIM-Bericht selbst an einer Stelle hin. Der Angriff erfolgte den Ermittlungen zufolge zwischen 6.30 und 7.00 Uhr. Jedoch waren von den 247 wegen Vergiftung behandelten Personen, von denen die Inspektoren Patientenakten erhielten, 57 bereits vorher in eines der umliegenden Krankenhäuser eingeliefert worden, zehn um 7.00 Uhr in ein 125 Kilometer entferntes und 42 zur selben Zeit in ein 30 Kilometer entferntes. Demnach stimmen die Aufzeichnungen von fast der Hälfte der untersuchten Fälle nicht mit der auf Basis der Zeugenaussagen ermittelten zeitlichen Abfolge überein. Das war weder für die gemeinsame UN-OPCW-Mission ein Problem noch für die Medien, die ihr Urteil als Fakt verbreiteten.

 

 

Alternatives Scenario: Konventionelle Freisetzung von Giftstoffen

Unberücksichtigt blieben auch die Recherchen des investigativen Journalisten Seymour Hersh, der über Quellen in Geheimdiensten und Militär verfügt. Informationen aus diesen Kreisen zufolge hatte man hier nie angenommen, dass die syrische Armee Chemiewaffen in Khan Sheikhoun eingesetzt hat. Das sei »ein Märchen«, so ein Geheimdienstberater, der in leitenden Positionen im Verteidigungsministerium und der CIA gearbeitet hat. Die CIA habe dem Weißen Haus vor Trumps Angriffsbefehl mitgeteilt, dass es keine Hinweise auf Sarin auf dem Flugplatz Sheyrat gegeben habe, von dem aus der syrische Bomber gestartet sein soll, und dass »Assad kein Motiv« habe, »politischen Selbstmord zu begehen«.

 

Vielmehr seien, wie früh schon von russischer Seite vorgebracht, Giftstoffe durch einen konventionellen Luftangriff auf ein zweistöckiges Gebäude im Norden der Stadt freigesetzt worden. In dessen oberer Etage, über einem im Erdgeschoss befindlichen Einkaufszentrum, hatten syrische und russische Aufklärer eine Kommandozentrale der Islamisten ausgemacht. Am Tag des Angriffs sollte ihren Informationen zufolge dort ein Treffen hochrangiger Führer stattfinden, darunter Vertreter von Ahrar al-Sham und der Dschabhat Fath asch-Scham, der Nachfolgerin der al-Nusra-Front. Die Kellerräume hätten als Lager für Raketen, Waffen und Munition sowie auch für andere Materialien, wie chlorhaltige Dekontaminationsmittel zur Reinigung der Körper von Toten, gedient. Das russische Militär hatte die für solche Koordinierungen zuständigen US-amerikanischen Stellen in Doha vorab über den geplanten Luftangriff auf das Dschihadistentreffen informiert, der um 6.55 Uhr stattfand.

 

Das US-Militär habe anschließend eine Beurteilung seiner Wirkung vorgenommen und sei zu dem Schluss gekommen, dass die Hitze und Explosionskraft der von der syrischen Luftwaffe eingesetzten 500 Pfund schweren Bombe eine Reihe von Sekundärexplosionen ausgelöst habe. Das Verbrennen und Freisetzen der im Keller gelagerten Düngemittel, Desinfektionsmittel und anderen Materialien habe eine riesige giftige Wolke erzeugt, die sich über das Stadtviertel auszubreiten begann. Ihre Wirkung könne durch die dichte Morgenluft verstärkt worden sein, die sie in Bodennähe einschloss.

 

Dazu würden auch, so Hersh, Beobachtungen der Ärzte ohne Grenzen passen. Sie fanden in einigen Krankenhäusern Opfer, die »nach Bleichmittel rochen, was darauf hindeutet, dass sie Chlor ausgesetzt waren«. Wenn aber mehr als eine giftige Chemikalie im Spiel war, so würde das eine Sarinbombe ausschließen. Tatsächlich stehe die Bandbreite der Symptome generell im Einklang mit der Freisetzung einer Mischung von Chemikalien, einschließlich Chlor und den in vielen Düngemitteln verwendeten Organophosphaten, die neurotoxische Effekte ähnlich denen von Sarin hervorrufen können.

 

Die Nachforschungen von Gareth Porter stützen diese These.

 

Auch Hersh und Porter formulieren letztlich nur Hypothesen, aber gut begründet und gestützt auf Experten, denen man schwerlich Interesse an einer Entlastung der syrischen Regierung unterstellen kann. Die JIM-Ermittler sind jedoch anscheinend auch dem nicht nachgegangen. Die Möglichkeit anderer giftiger Substanzen, mit Symptomen und Zersetzungssubstanzen, die denen von Sarin ähneln, wurde ihrem Bericht zufolge nie ernsthaft untersucht. Es wurde zwar auch die Bombardierung eines Warenhauses, das in »einigen öffentlichen Erklärungen als Depot für terroristische Munition« genannt worden sei, als mögliches Szenario aufgeführt, jedoch ohne weitere Prüfung verworfen, da das Gebäude vom »syrischen Zivilschutz« als Lazarett genutzt zu werden scheine. Mit dem Zivilschutz sind die Weißhelme gemeint, die bei den Leitern der Untersuchungsmission offenbar grenzenloses Vertrauen genießen.

 

Allem Anschein nach war auch hier die Untersuchung einseitig und vorurteilsbehaftet geführt. Am Ende wurden die Ergebnisse so präsentiert, dass sie die gewünschten Schlüsse erlauben. Die Enthüllungen der Inspektoren der Duma-Mission legen nahe, dass hier ebenfalls gezielt manipuliert wurde.

 

Das bestärkt wiederum auch die Zweifel an den früheren Giftgasvorwürfen gegen die syrische Regierung und untermauert die Forderung nach tatsächlich unabhängigen Untersuchungen unter Federführung von Staaten, die keine der beteiligten Parteien unterstützen und souverän genug sind, sich dem Druck großer Mächte nicht zu beugen.