Der Kapitalismus ändert sein Gesicht. Seine Züge werden erneut härter, unduldsamer, abweisender. Solidarität ist keine Ressource mehr, mit der die wachsende Schar der Scheiternden und Chancenlosen in dieser Gesellschaft rechnen kann, vielmehr gilt das Scheitern, das Nicht-Mithalten-Können als eine selbstverschuldete Misere, der die Einzelnen schon selbst entrinnen müssen. Dem Staat und seinen sozialen Sicherungssystemen obliegt dabei die Aufgabe – so die vorherrschende Sicht heute –, die Selbstverantwortlichkeit der Ausgegrenzten und von Ausgrenzung Bedrohten zu fördern und zu fordern. Bleiben die angebotenen, genauer: verordneten Maßnahmen ohne Erfolg, sind es letztlich wieder die »Kunden« der neuerdings sich als Dienstleister verstehenden Sozialbürokratie, denen wiederum persönliches Versagen zugeschrieben wird. Das soziologische und politische Denken verkümmert zusehends. Die etablierten Parteien und die Mehrheitsgesellschaft kommunizieren Erfolg und Mißerfolg, Wohlstand und Armut, gelingendes und gescheitertes Leben überwiegend und hartnäckig in individuellen Kategorien – eine bemerkenswerte Paradoxie des enthemmten Kapitalismus. Persönliche Zuschreibungen gewähren Übersichtlichkeit in einer unübersichtlichen Welt. Zugleich schmeicheln sie den vom Erfolg Verwöhnten. Wenn der Gewinnerstatus sich überwiegend, wenn nicht einzig, individuellem Leistungsvermögen und entschlossenem Handeln auf gesellschaftlichen »Gelegenheitsmärkten« verdankt, kann man ihn nicht nur stolz präsentieren und genießen, man muß sich dafür auch nicht mehr entschuldigen.
Anders sieht es nun aber aus, wenn der gewohnte Erfolg ausbleibt. Die aktuelle Finanzkrise des Kapitalismus liefert dafür reichlich Anschauungsmaterial. Solange die (Selbst)Bereicherung reibungslos funktionierte, galt staatliche Regulierung oder Beschränkung »innovativer« Finanzierungsmodelle als unakzeptable Einmischung ins Marktgeschehen. Nun, da die Kreditmärkte zu verdorren drohen und Kredite fallieren, wird nicht nur wieder lautstark nach dem Staat gerufen, sondern das eigene (individuelle) Versagen flugs geleugnet, indem System- und Konkurrenzzwänge bemüht werden, die außer Kontrolle geraten seien. Es bedarf keiner seherischen Qualitäten, um zu prognostizieren, daß dieser »Erkenntnisfortschritt« spätestens dann wieder verloren geht, wenn die virulente Krise ausgestanden zu sein scheint. Der Staat wird eben immer nur als Krisenmanager gerufen, der bereitwillig die Verluste sozialisiert, ohne die Gewinne angemessen zu besteuern.
Doch wenn es eine Lehre aus den jüngsten Finanzmarktturbulenzen zu ziehen gilt, dann vor allem die, daß sich selbst überlassene (Finanz)Märkte zwangsläufig zu Instabilität, krisenhaften Verläufen und »irrationalem Überschwang« (Robert Shiller) tendieren, die zu erheblichen ökonomischen und sozialen Verwerfungen führen können. Selbst Verfechter einer freien Marktwirtschaft geben sich fassungslos angesichts der spekulativen Übertreibungen auf den Finanzmärkten.
»Mit ungläubigem Staunen«, schrieb Wolfgang Kaden im Frühjahr im manager-magazin, »müssen wir zur Kenntnis nehmen, welches riesige Rad beste Adressen des Bankgewerbes mit Hedge-Fonds gedreht haben. Ein Fonds der Betreibergesellschaft Carlyle Capital, beispielsweise, hat mit 670 Millionen Dollar eigenem Geld Hypothekenanleihen im Wert von fast 22 Milliarden gekauft. Für jeden Dollar Eigenkapital wurden also 31 Dollar fremdes Kapital geliehen. Die Kredite stellten Geschäftsbanken freudig bereit. Was einem den Glauben an die Zunft der Banker raubt, ist der Umstand, daß die Gentlemen nonchalant alle Grundregeln des Bankgeschäfts außer Kraft gesetzt haben. Beispielsweise den Lehrsatz, dass hohe Renditen nur mit hohem Risiko zu erzielen sind.« Die geforderte Rückbesinnung auf das traditionelle Bankgeschäft und auf realistische Profitraten wird allerdings ohne staatliche Eingriffe kaum gelingen. Der häufig zu hörende Ruf nach mehr Transparenz oder die im Banksektor diskutierten »freiwilligen Selbstbeschränkungen« gleichen eher dem Wunsch: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß.« Vielmehr ist Wolfgang Kaden zuzustimmen, wenn er erklärt: »So schwer es einem liberalen Ökonomen fällt – die Devise kann nur lauten: Entmachtet die Banker! Die Geldhändler müssen in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt werden, nach Jahren der Deregulierung ist Reregulierung angesagt.« Doch wird man aus Schaden nicht immer klug. Nach der spektakulären Pleite des Hedgefonds LTCM im Jahr 1998 kam die spekulative virtuelle Ökonomie erst in Schwung. Einsichten müssen nun mal auch um- und durchgesetzt werden. Die Banker befinden sich zwar in einer veritablen Vertrauens- und Legitimationskrise, aber daß wir gegenwärtig Zeugen des Endes der »unangefochtene(n) Vorherrschaft des angelsächsischen Finanzkapitalismus« und der folgenden »Rückbesinnung auf die Tugenden kontinentaleuropäischen Wirtschaftens« sind, wie Kaden im Spiegel vermutet und hofft, wird sich erst noch erweisen müssen.
Was traut sich die Politik im »Zeitalter der Globalisierung« überhaupt noch zu? Geboten wäre eine Politik, die das Gemeinwohl im Blick behält und nicht lediglich spezielle Kapitalinteressen bedient, also eine Politik, die eine Reregulierung des Marktes in Angriff nimmt, eine andere Verteilung (höhere Besteue-
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Länder und Sitten
Henry Paulson, derzeitiger US-Finanzminister, dem sein Präsident unbeschränkte Vollmacht zur Lösung der Finanzkrise geben möchte, und zwar selbstverständlich zu einer solchen Lösung, die den Interessen des großen Kapitals dient, hat diesbezüglich Erfahrung. Zuvor war er Chef der Investmentbank Goldman Sachs, und er hat in dieser Funktion den Profit seiner Firma und das eigene Vermögen aufs beste vermehrt.
In deutschen Medien mokiert man sich darüber: Erst Spitzenmanager, dann Staatsminister?
Andere Länder, andere Sitten, aber unterm Strich dann doch wieder nicht: In der Bundesrepublik Deutschland verläuft die politökonomische Biographie umgekehrt. Erst wird jemand Minister und hat in der Politik die Interessen des großen Kapitals zu vertreten, und nach seiner Amtszeit übernehmen ihn die großen Konzerne in ihre Dienste. Dies ist das vielfach erprobte Modell »aufgeschobene Belohnung«.
Peter Söhren
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rung der Kapitaleinkommen und der Vermögen) wagt und damit die notwendige materielle Voraussetzung für Chancengleichheit schafft. Doch davon kann zur Zeit keine Rede sein. Innerhalb der Europäischen Union ist eine Sozialunion in weiter Ferne, Steueroasen werden nach wie vor geduldet, und die Bewegungsfreiheit der Märkte ist oberstes Gebot.
Am einfachsten machen es sich regierende Politiker und tonangebende Publizisten, wenn sie die zunehmenden sozialen Ungleichheiten gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Beim großen Geld machen sie sich beliebt, wenn sie stattdessen ungeniert »Eliten« fordern und fördern. Eine dynamische Gesellschaft sei auf Eliten angewiesen. Deren freie Entfaltung ermögliche erst die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen, denen sich die moderne Gesellschaft ausgesetzt sieht. Doch der Elitendiskurs offenbart nur, wie brüchig der demokratische Konsens bereits ist, wie sehr sich diejenigen, die sich für die »Elite« der Gesellschaft halten oder sich Chancen ausrechnen, in ihren Olymp aufgenommen zu werden, vom demokratischen Ethos und seinem Gleichheitsdiskurs verabschiedet haben.
So sind es denn vor allem die »Eliten«, die die »Ökonomisierung des Sozialen« (Heitmeyer) vorantreiben und die Demokratie gefährden. Darauf macht der Elitenforscher Michael Hartmann eindringlich aufmerksam: Die Elite »zieht sich raus, weil die eigene Lebenswirklichkeit mit der Masse nichts mehr zu tun hat. Ob das der Privatjet ist oder die Klinik, die man sich weltweit aussuchen kann: Man gestaltet sein Leben, wie man will. Der Staat wird nur als lästig empfunden.«
Wenn einkommensstarke Klassen gegenüber dem Staat und seinen fiskalischen Ansprüchen abwehrend, um nicht zu sagen feindlich eingestellt sind und dabei auch noch mit Zustimmung in der Öffentlichkeit rechnen dürfen, hat demokratische Politik, die per definitionem auf sozialen Ausgleich zielt schlechte Karten. Demokratie kann nur gedeihen, wenn sie die sozial ausgrenzende Dynamik des Kapitalismus zähmt. So befinden wir uns gegenwärtig in einem Umbruch hin zur »Postdemokratie«, der den aufbrechenden sozialen Gegensätzen mit der Schleifung von Grundrechten und autoritärer Sicherheitspolitik begegnet. Daß dazu auch das Schüren von Ängsten vor der angeblich zunehmenden Gewaltbereitschaft randständiger (jugendlicher) Bevölkerungsgruppen gehört, versteht sich von selbst. Und auch die wiederholte Warnung vor terroristischen Anschlägen durch islamistische Gruppen erfüllt ihren Zweck. Angst lähmt, sie erzeugt eine infantile Sehnsucht nach der starken, beschützenden Hand. So finden der Staat und seine Interventionen letztlich doch wieder breite Zustimmung, aber eben nur auf dem Feld der Sicherheits-, das heißt der Kontroll- und Einschüchterungspolitik.
Ungezügelte Bewegung und Verwertung des Kapitals wird also zu Lasten der politischen Freiheit und demokratischen Grundrechte beansprucht, zunehmende Armut und soziale Ausgrenzung werden billigend in Kauf genommen. Die Zeiten werden für viele rauher und leidvoller.
Postdemokratie bedeutet, daß wir uns neofeudalen beziehungsweise plutokratischen Verhältnissen nähern. Wer sich damit nicht resignierend abfinden mag, muß über die Einschränkung der im Grundgesetz verankerten Garantie des privaten Eigentums nachdenken. »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen« heißt es im Grundgesetz Artikel 14 Absatz 2. Ein Verfassungsgebot. Und die Verfassungswirklichkeit?
Ralph Graf ist Volkswirt, Sozialwissenschaftler und freier Publizist