Dem Bundeswehrsoldaten ist Kritik am Angriffskrieg zwar durchaus gestattet, freilich darf er durch die Form, in der er diese vorträgt – ungeachtet ihrer substantiellen Berechtigung – keinesfalls die Disziplin ebenjener Truppe gefährden, die just ein derartiges Verbrechen unterstützt oder sich daran beteiligt. So läßt sich der Irrwitz zusammenfassen, mit dem der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts meine Verfassungsbeschwerde ablehnte, worüber ich in Ossietzky 18/08 berichtet habe. Dem Gedanken, daß der Angriffskrieg als schlimmstes aller Verbrechen – da es alle anderen Verbrechen in sich birgt – der heftigsten Widerrede und Entgegnung bedarf, konnten die Verfassungsrichter offenbar nichts abgewinnen.
Nachdem die höchsten deutschen Richter solchermaßen – nicht zum ersten Mal – vor ebenjener Verfassung fahnenflüchtig geworden waren, zu deren Schutz sie eigentlich bestellt sind, blieb nur die letzte Instanz in der judikativen Hierarchie, nämlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Dort legten die Rechtsanwälte Wolfgang Kaleck, der gemeinsam mit dem New Yorker Center for Constitutional Rights bereits eine Klage gegen den US-amerikanischen Kriegsverbrecher Donald Rumsfeld angestrengt hatte, und Jörg Arnold, Professor am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, in meinem Auftrag eine Individualbeschwerde gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ein.
Die Zulässigkeit der Klage ergibt sich daraus, daß Hoheitsakte der rechtsprechenden Gewalt – nämlich des Truppendienstgerichts Süd in München und des Bundesverfassungsgerichts gegen einen in Ossietzky erschienenen Beitrag – mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verletzt hatten und ich dadurch unmittelbar in meinem durch Art. 10 der Konvention garantierten Grundrecht betroffen wurde. Absatz 1 jenes EMRK-Artikels legt fest: »Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. ...« Absatz 2 führt aus, daß die »Ausübung dieser Freiheiten ... mit Rechten und Pflichten verbunden« ist. Daraus wiederum folgt, daß »sie ... daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden [kann], die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder der Verhütung von Straftaten, zum Schutze der Gesundheit und Moral, zum Schutze des guten Rufs oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung«.
Der Gang zum EGMR war eröffnet, weil der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft war, denn nach der höchstrichterlichen Beschlußfassung in Karlsruhe stand innerhalb der Bundesrepublik Deutschland kein weiterer Rechtsbehelf mehr zur Verfügung. Zudem endet nach ständiger Rechtsprechung des EGMR die Geltung des Artikel 10 EMRK in Europa eben nicht vor den Kasernentoren – Urteilen des EGMR aus den Jahren 1976, 1992, 1994 und 1997 zufolge erstreckt sich nämlich die Freiheit der Meinungsäußerung auf militärische Personen ebenso wie auf andere Personen innerhalb der Jurisdiktion der Vertragsstaaten.
Die Begründung der Menschenrechtsbeschwerde knüpft an die Völkerrechtswidrigkeit des Irak-Krieges an, wie sie sich im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 (s. Ossietzky 13/08) und der deutschen Völkerrechtswissenschaft darstellt. Nach deren nahezu einhelliger Auffassung war »der Irakkrieg ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg« und »handelte es sich bei den deutschen Unterstützungsleistungen und Duldungen um völkerrechtswidrige und verfassungswidrige Beihilfehandlungen, die auch unter den Gesichtspunkten der individuellen Strafbarkeit zu diskutieren sind« (Kaleck/Arnold).
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob entsprechend Artikel 10 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention der Eingriff der deutschen Justiz in mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung erstens »vom Gesetz vorgesehen« und zweitens »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.
Im Hinblick auf die erste Prämisse ist festzustellen, daß der vage und beliebig dehnbare Begriff der »Funktionstüchtigkeit« der Bundeswehr, auf den das Bundesverfassungsgericht in seinem Ablehnungsbescheid abgestellt hat, nirgendwo gesetzlich geregelt ist (wiewohl diese Republik dazu neigt, alles und jedes gesetzlich zu regeln), sondern einzig und allein der Urteilspraxis der Karlsruher Rotröcke entspringt. Durch dieses Hintertürchen konnten sich die Verfassungsrichter aus der Verlegenheit eskamotieren, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben.
Kaleck und Arnold monieren, daß das Bundesverfassungsgericht es unterließ, darauf hinzuweisen, daß das Truppendienstgericht die Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr explizit gerade damit begründet hat, daß ich eine Menschenwürdeverletzung begangen und Schmähkritik zum Ausdruck gebracht hätte. Das Bundesverfassungsgericht selbst verneinte nämlich in seinem Beschluß ausdrücklich und ausführlich, daß eine Menschenwürdeverletzung und Schmähkritik vorliegt. Wenn diese Voraussetzungen für die durch das Truppendienstgericht ausgesprochene Disziplinarmaßnahme fehlen, war das Bundesverfassungsgericht nicht legitimiert, diese Maßnahme unter Verweis auf die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr letzten Endes doch gelten zu lassen.
Hinsichtlich der zweiten Prämisse, der Notwendigkeit des Grundrechtseingriffs, ist zu beanstanden, daß, wie meine Anwälte in der Begründung meiner Beschwerde in Straßburg schreiben, das Bundesverfassungsgericht »völlig verkannt hat, daß es in einem demokratischen politischen System nicht nur wünschenswert und für die Strukturen des nationalen Militärs förderlich ist, daß auch Militärangehörige ... sich kritisch mit dem Verhalten der Bundeswehr auseinandersetzen, sondern daß dies bei einer Situation wie dem Irak-Krieg geradezu erforderlich ist. Denn diese Situation war unter anderem dadurch gekennzeichnet, daß der überwiegende Teil der deutschen öffentlichen Meinung diesen Krieg als einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg angesehen hat, und dies seine einhellige Bestätigung durch die deutsche Völkerrechtswissenschaft und sogar hinsichtlich der deutschen Beteiligung an dem Irak-Krieg durch das Bundesverwaltungsgericht fand. ... In einer solchen Situation von dem Beschwerdeführer zu verlangen, ... mit seiner kritischen Meinung aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Funktionsfähigkeit der Bundeswehr hinter dem Berg zu halten, die – wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat – gerade keine Menschenwürdeverletzung und Schmähkritik zum Ausdruck brachte, bedeutet letzten Endes, allein schon verbales kritisches Verhalten durch blinden Gehorsam ersetzen zu wollen.«
Die Menschenrechtsbeschwerde führt zu zwei Konklusionen. Die erste betrifft den verfassungsgemäßen Auftrag der deutschen Streitkräfte: »Die Grenzen der freien Meinungsäußerung sind in diesen politisch wie militärisch höchst brisanten Situationen wie den umschriebenen von gänzlich anderem Gewicht als in jenen, in denen die Bundeswehr als demokratische Institution ihren verfassungsgemäßen Friedens- und Verteidigungsauftrag zweifelsfrei wahrnimmt. Eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr kann sich ... immer nur darauf beziehen, daß dadurch die Tätigkeit der Bundeswehr im Zusammenhang mit der Landesverteidigung gestört wird, nicht aber darauf, daß die Unterstützung der Bundeswehr für einen völkerrechtswidrigen Angriff ... in aller Deutlichkeit kritisiert wird. Eine derartige Kritik erfolgt gerade deswegen, um die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zur Verteidigung und Erhaltung des Friedens wiederherzustellen, und gerade nicht, um diese zu stören.«
Die zweite Schlußfolgerung bezieht sich auf das Selbstverständnis des Soldaten vor dem Hintergrund der katastrophalen Erfahrungen mit dem Militarismus in der deutschen Vergangenheit: »Nach den Erfahrungen mit dem NS-Staat erwartet die demokratische Gesellschaft von ihren Soldaten keinen blinden Gehorsam, sondern verlangt von ihnen vielmehr ein kritisches, wachsames und besonnenes Verhalten. Denn nur dann, wenn sich jeder Soldat seiner besonderen individuellen Verantwortung bewußt ist und sich nicht nur als ›Kamerad‹ in der Masse versteht, ist eine ›nationale und öffentliche Sicherheit‹ im Sinne des Artikels 10 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft denkbar.«
Ich hoffe, die europäischen Richter in Straßburg werden zu einer weiseren, dem Frieden dienlicheren Entscheidung gelangen als zuvor ihre Kollegen in Karlsruhe.
Die Artikelserie zur Ächtung des Angriffskrieges wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er hier seine persönlichen Auffassungen darlegt.
Auf das Ossietzky-Friedenskonto, das im Sommer eingerichtet wurde, um Bundeswehrsoldaten zu helfen, die öffentlich Kritik an militaristischen Tendenzen in der Bundeswehr äußern und sich rechtswidrigen Befehlen verweigern, vor allem der Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen, und die deswegen disziplinarrechtlich verfolgt werden, sind weitere Spenden eingezahlt worden: Susanna B.-K. 200 €, Gisela K. 50 €, Uta K. 25 €, Monika N. 50 €, Eberhard R. 50 €, Barbara und Jürgen Sch. 25 €. Der Kontostand ist damit auf über 2.400 € gestiegen. Das Konto bei der Sparkasse Hannover, Bankleitzahl 250 501 80, hat die Nummer 900 369 426.