Nachdem den Deutschen jahrelang erklärt worden war, daß der Krieg, den sie seit 1939 ausfochten, ein Judenwerk war, kamen sie – gewiß nicht alle –, als sie ihn verloren hatten, doch ins Grübeln und Denken darüber, woher Kriege in die Geschichte kommen und wie Zustände geschaffen werden könnten, in denen sie sich nicht mehr ereignen würden. Das beschäftigte eine Minderheit von Menschen, die dafür Gründe hatten, den nächstliegenden in ihrem Dasein: hungernd in Trümmern, verwaist oder krank und heimatlos geworden. Dieses Fragen hat seine Aktualität nahezu ein Menschenalter später nicht verloren, jedenfalls nicht für jene, deren Interesse weiter als nur in das eigene Lebensgebiet und dazu allenfalls noch in die Länder ihrer Urlaubsziele reicht. Daß indessen ein Historiker einen von diesem Interesse, das zumeist mit einer humanistische Haltung verbunden ist, wegführenden Wandel nicht allein konstatiert, sondern ihn für gut und für einen Fortschritt hält, mag überraschen – selbst jene, denen die unter Geschichtswissenschaftlern verbreitete Distanz zu Ereignissen und Entwicklungen schon aufgefallen war, solange aus deren Asche auch nur ein dünner Qualmfaden noch aufsteigt.
Am Ende einer internationalen Historikertagung in Paris, deren Gegenstand Erinnerung und Erfahrung mit dem Blick auf den Zweiten Weltkrieg bildeten und deren Referate inzwischen gedruckt vorliegen, hat Henry Rousso, Professor an der Universität Paris X, von einer »Kultur der Erinnerung« – die Zahl der Kulturen wächst inflationär – gesprochen, die »zu einer neuen Sicht des Zweiten Weltkriegs geführt« habe (»Eine neue Sicht des Krieges« in: »Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung«, hg. von Jörg Echternkamp und Stefan Martens, Ferdinand Schöningh Verlag). Die erkennt er daran, daß sie sich auf dessen »todbringende Dimension« und auf »das Schicksal von Individuen« konzentriert. Da fallen Deutschen sogleich die Fernsehfilme ein, in denen einmal das Schicksal Hitlers und seiner Sekretärin, ein andermal das einer ostpreußischen Gräfin und weiterer Individuen in das Zentrum der Handlungen und der Bilder gerückt waren.
Jetzt finde das Ende der Kriege mehr Interesse, meint der Historiker. Im Kontext liest sich das bei ihm so: »In den zwanziger und dreißiger oder auch in den fünfziger und sechziger Jahren beschäftigte man sich vor allem mit den Ursachen des Krieges und den Gründen für seinen Ausbruch. Ein halbes Jahrhundert später findet der Beginn des Krieges weniger Interesse als sein Ende.« Zum Unwert des Terminus Ausbruch, der an Vorgänge in der Natur erinnert, zur Charakteristik des Schrittes in den Krieg ist das Nötige schon mehrfach gesagt worden. Könnte es jedoch nicht sein, daß dieser Interessenwandel so wenig ausgebrochen ist wie die Kriege 1914 und 1939, sondern auch ihm ein Kalkül zugrunde liegt? Und ist vergessen, daß es schon immer Menschen und Menschengruppen gab, die sich an den Ursachen von Kriegen deshalb wenig interessiert zeigten, weil sie an ihrer Entstehung ein wenig oder ein wenig mehr beteiligt waren? So entstand früh die Version von »Hitlers Krieg« und »Hitlers Kriegszielen«, die ihre außerordentliche Zählebigkeit bis in unsere Tage erweist. Personalisierung als Ablenkung.
Der Blick auf die »tödliche Dimension«, auf Gewalt und Tod oder, um es mit den Stichworten insbesondere der deutschen Fernsehsender zu sagen: auf »Bombenkrieg, Flucht, Vertreibung« verengt das Fragen auf die Kriegshandlungen und deren Folgen. Die besitzen in der Historiographie ihren festen Platz, den ihnen kein Forscher streitig macht. Aus ihrer Aufzählung und der Beschreibung von Opfern und Leiden ist freilich für das Eindringen in den Komplex der Kriegsursachen nichts zu gewinnen. Eine Geschichtsforschung, die ihn ausläßt oder an einen hinteren Platz ihrer Aufmerksamkeit setzt, bricht mit demokratischer Tradition. Sie kann selbstredend nichts zur Beantwortung der Frage beisteuern, ob es zwischen den Kriegen des 20. und des 21. Jahrhundert noch weitere Kontinuitätslinien gibt als die des Tötens, Mordens, Sterbens.
Der alternative Blick auf die Individuen, der Rousso als Fortschreiten der Wissenschaft erscheint, erweist sich jedenfalls in der von ihm bezeichneten Perspektive bei genauerem Hinsehen als ein Schritt in die Beliebigkeit. Unbenommen bleibt: Jedem seine Erinnerung. Indessen: Jedem seine Geschichte? Jedem sein Kriegsende? Der 8. Mai 1945 sei nicht für jeden »dessen passendes Datum«, meint der Propagandist der »neuen Sicht«. Dem einen gelte dafür der »Beginn des Kalten Krieges« 1947, dem anderen die »Währungsreform« im Jahre 1948, dem dritten womöglich das Jahr 1989, und so rechtfertigt er eine Betrachtungsweise, die – en passant – aus dem Geschichtsbild das Verdienst jener entfernt, die dafür sorgten, daß eines Tages im Mai 1945 die Waffen schwiegen, und er blendet einen Moment aus, der bisher von Generationen von Menschen und auch von Historikern als das Ende von Kriegen angesehen und markiert wurde. Die von Rousso repräsentierte Strömung der Erinnerungskultur läßt sich mit dem russischen Sprichwort benennen: »Dem Herrgott keine Kerze und dem Teufel kein Schüreisen.« Auf sie kann verlustlos verzichtet werden.