Als Klaus Lemke 1968 »Brandstifter«, einen Film über die Frankfurter Kaufhausanschläge des gleichen Jahres, gedreht hatte, sollen sich bei ihm ein paar dunkle Gestalten mit der Forderung gemeldet haben: »Das ist unsere Geschichte – her mit dem Geld!« Hätten später Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) Tantiemen für die über sie gedrehten Filme und die vielen Bücher eingeklagt, könnten sie heute ein beschauliches und sorgloses Seniorendasein führen. Seit Lemkes Vorläufer haben sich mehr als ein Dutzend Filme mit dieser Gruppe beschäftigt; darunter sind so ehrenhafte, auch künstlerisch gelungene wie Volker Schlöndorffs Adaption des Romans »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« von Heinrich Böll (1975), Margarethe von Trottas »Die bleierne Zeit« (1981), angelehnt an die Geschichte der beiden Ensslin-Schwestern, Volker Schlöndorffs »Die Stille nach dem Schuß« (2000), dessen Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase auf den Erinnerungen der in der DDR untergetauchten Inge Viett basierte, die den Film allerdings heftig kritisierte, und Gerd Conradts biographische Collage »Starbuck – Holger Meins« (2001) über seinen beim Hungerstreik gestorbenen ehemaligen Kommilitonen an der Berliner Film- und Fernsehakademie.
An Medien-Hype werden sie jetzt alle übertroffen von Bernd Eichingers nach eigenem Drehbuch für 20 Millionen Euro inklusive 6,5 Millionen Fördermittel produziertem »Der Baader Meinhof Komplex« unter der Regie von Uli Edel. Als Vorlage diente Stefan Austs gleichnamiges Buch, das sofort in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Damit nicht genug, erschienen ein Buch zum Film von Katja Eichinger und zwei Hörbücher. So vermarktet wird die RAF drei Jahrzehnte nach ihrem Ende (förmlich aufgelöst wurde sie erst 1998 durch ein Schreiben ihrer »Dritten Generation«) zum einbringlichen Geschäft. Die Profiteure argumentieren mit der »Zerstörung eines Mythos«. Aber kann man zerstören, was gar nicht mehr existiert – oder haben die Herrschenden trotzdem noch Angst vor einem solchen Mythos?
Heutige junge Deutsche wissen wenig über die RAF. Ein politisches Engagement wie ’68 (das übrigens auch in Italien, Japan und den USA militant auftrat) ist aus der Mode gekommen. So werden junge Zuschauer den Film wohl vor allem als Gangsterspektakel sehen, viele ältere als Bestätigung ihres Pauschalurteils, die Rebellen von damals seien nur kaltblütige Mörder gewesen. Auf der Leinwand wird viel geballert, zur Ausleuchtung der Hintergründe bleibt in diesem 140minütigen Crashkurs der RAF-Story kaum Zeit.
Immerhin wird gezeigt, daß es der Staat war, der mit dem polizeilichen Mord an Benno Ohnesorg die Gewaltspirale auslöste, man sieht die Proteste gegen den Vietnamkrieg, beim Attentat auf Rudi Dutschke aber bleibt die Rolle der Springer-Presse ausgespart. Die Ereignisse bis zum Ende in Stammheim werden abgehakt. Das letzte Bild zeigt die Erschießung Hanns Martin Schleyers.
Nützlich hierzu wäre dessen Biographie, wie sie ein Porträt von Lutz Hachmeister aus dem Jahr 2003 zu mitternächtlicher Stunde im 3. Fernsehprogramm des WDR am 15. September noch einmal dokumentierte. Es machte unkommentiert deutlich, daß der einstige SS-Wirtschaftsführer im Protektorat Böhmen und Mähren und spätere Industrie- und Arbeitgeberpräsident prototypisch die ungebrochenen Karrieren von Nazi-Nutznießern und -Unterstützern im Adenauer-Staat verkörperte. Diese nie hinterfragte Vergangenheitsverdrängung (am 8. Oktober, 21.50 Uhr in einer Dokumentation auf arte auch in der Gestalt Hans Maria Globkes personifiziert) war ein zentrales Motiv für das Aufbegehren der sich schließlich radikalisierenden Studentenbewegung.
33 Tote in sieben Jahren gehen auf das Konto der RAF, jeder einer zuviel. Ohne sie zu verharmlosen, sei doch der Vergleich mit den toten Zivilisten in Afghanistan und im Irak gewagt, die, wenn überhaupt, gerade noch in Zehn-Zeilen-Meldungen als Kollateralschäden registriert werden – worüber wohl auch ein Großteil des Publikums des Baader-Meinhof-Films schon lange hinwegliest.
Das meist negative Presseecho auf den Film, im Aufzeigen seiner Schwächen gewiß zutreffend, könnte auch als Reaktion vieler Kritiker auf die Anmaßung des Constantin-Verleihs im Vorfeld der Premiere verstanden werden. Erst nach den Voraufführungen in München und Berlin sollte über die Produktion filmkritisch berichtet werden. Für Zuwiderhandlungen drohte der Verleih sogar mit einem Strafgeld von 50.000 Euro. Dagegen rührten Spiegel und FAZ mit ausführlichen Beiträgen, die dem Film sogar eine Neubewertung der ganzen RAF-Rezeption bescheinigten, schon frühzeitig die Werbetrommel, wozu auch noch die Nachricht von der Oscar-Nominierung kam. Eine Strategie, die an die Medienkampagne um Eichingers »Untergang« vor vier Jahren erinnerte. Bei diesem PR-Aufgebot hielt man es zuletzt nicht einmal mehr für unmöglich, daß auch der Farbbeutelanschlag auf Austs Villa in Hamburg-Blankenese unmittelbar vor dem Kinostart Teil der Werbekampagne hätte sein können.
Kaum eine Zeitung verzichtete auf ein Aust-Interview. Aber das Medienspektakel hatte auch etwas Positives, wurde doch publik, daß neue Recherchen von Aust bisher geheimgehaltene Abhörmethoden in Stammheim aufgedeckt haben, wodurch neue Fragen nach den Umständen des Todes der Häftlinge aufgeworfen werden. Und man erfuhr von dem RAF-Spezialisten auch einiges über die Debatten im Krisenstab des Kanzleramtes, in denen es sogar um das Für und Wider der Todesstrafe ging.
Mein Eindruck nach Besichtigung des Films unterschied sich von dem vieler Kritikerkollegen, was vermutlich auch dem anderen Blick eines Zeitzeugen, der bei der Beerdigung von Holger Meins und Ulrike Meinhof dabei war, geschuldet ist. Aus der Sicht der Nachgeborenen erschien der Film nur – um die Überschrift einer Kritik zu zitieren – »extrem laut und unglaublich fern«. Mir rückte er das Geschehen nach dreißig Jahren wieder unglaublich nah. Dabei war ich in die Vorführung mit der Erwartung gegangen, daß mir der Film die Vorlage für einen eindeutigen Verriß liefern würde. Heraus kam ich mit der Verwunderung, eine ziemlich ausgewogene, durch akribische Recherche bis ins Detail weitgehend authentische Chronik der Ereignisse gesehen zu haben, die ich, abgesehen von den breit ausgespielten Gewaltszenen, auch nicht gegenüber den Protagonisten als einfach nur denunziatorisch empfand. (Aust: »Ich wollte den Stoff nicht instrumentalisieren.«)
Dies ist vor allem das Verdienst der Hauptdarsteller. Johanna Wokalek als Gudrun Ensslin macht deutlich, wie sich ihr anfangs aus dem heimischen Pfarrhaus religiös motivierter Idealismus bald in einen unmenschlichen Fanatismus steigert. Martina Gedeck hat sich ganz mit ihrer Rolle Ulrike Meinhof identifiziert, deren Lebenstragik nachvollziehbar wird. Da ist ein Mensch, der bei seiner Festnahme weint und dann immer mehr unter dem widerlichen Mobbing der Mitgefangenen Baader und Ensslin in Stammheim leidet, so daß sie schließlich keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sieht, vielleicht auch in dem Bewußtsein eines Irrwegs. Ulrike Meinhofs Wechsel vom Luxusleben einer Starjournalistin in den Untergrund (aus dem es von ihr allerdings irrationale inhumane Äußerungen gibt) wird wahrscheinlich kein angepaßter Berufsschreiber von heute verstehen. Moritz Bleibtreus Baader ist nicht nur der überhebliche Macho, der seinerzeit für manche zum Faszinosum wurde. In einem wohl fiktiven letzten Gespräch mit einem Pfarrer distanziert er sich vom Mord an Unschuldigen und »prophezeit«, daß von der zweiten und dritten RAF-Generation und späteren Terroristen noch mehr skrupellose Gewalt ausgehen werde, wozu aus der Ferne suggestiv die Rufe eines Muezzins hörbar sind.
Wenn ein sensibler Zuschauer den Film nicht nur als ein unreflektiertes RAF-Bashing verstehen kann, ist das auch dem Regisseur Uli Edel (»Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, 1981) zu verdanken, der von Eichinger als befreundeter Kommilitone aus gemeinsamer Münchner Filmhochschulzeit eigens aus Los Angeles engagiert wurde, wo er seit 1990 lebt und für das amerikanische Fernsehen arbeitet. Anders als Götz Aly & Co. distanziert er sich nicht von seiner 68er Jugend: »Ich war ein unheilbarer Revolutionsromantiker.« Davon ist noch etwas spürbar in dem emotionalisierenden musikalischen Rahmen seines Films, der mit Janis Joplins »Mercedes Benz« beginnt und mit Bob Dylans »Blowin‘ in the wind« endet.
Das Beste, was bei aller Zwiespältigkeit von »Der Baader Meinhof Komplex« gesagt werden kann, stammt von Baader-Darsteller Moritz Bleibtreu: »Unser Film erinnert daran, daß es einmal Menschen gab, die an die Möglichkeit einer Veränderung der Welt glaubten. Sie wählten die völlig falschen Mittel, aber sie glaubten wenigstens daran. Diese Qualität ist verloren gegangen. Wenn einige junge Leute nach dem Film anfangen, sich darüber Gedanken zu machen, wäre schon vieles gewonnen.«