Von der »Scheiße des Krieges« pflegt er zu sprechen, wenn er nach seinen Erfahrungen als Offizier der großdeutschen Wehrmacht befragt wird: der langjährige Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt, früher Bundesverteidigungsminister, Bundeswirtschaftsminister, Bundesfinanzminister und Bundeskanzler. Auf die Frage, was die Bundeswehr am Hindukusch zu suchen habe, antwortet er kurz und prägnant: Gar nichts. Ein nachgerade idealtypischer Fall von »Vulgärpazifismus«, folgt man in der Zeit vom 17. September einer Autorin, die sich Thea Dorn nennt. Sie denunziert all jene, die nach acht langen Jahren des Mordens und Krepierens auf dem afghanischen Kriegsschauplatz ein möglichst rasches Ende des sinnlosen Gemetzels fordern. Rückhalt findet sie bei einem anderen Herausgeber des Hamburger Wochenblattes, Josef Joffe, dem Chef-Bellizisten. Dieser notorische Federheld hatte es zwei Wochen zuvor fertiggebracht, den Krieg zum »Vorsorgeprinzip« zu erheben. Man mochte seinen Augen nicht trauen, aber da stand es wirklich in fetten Lettern gedruckt: »Krieg als Vorsorgeprinzip«. Und wer trifft da Vorsorge? Und für wen? Wie immer, wenn Kriegshetzer und Kriegshetzerinnen in ihren warmen und sicheren Schreibstuben ihrem Gewerbe nachgehen, sind es die Anderen, die töten und sterben müssen.
In die von Thea Dorn so abschätzig benannte Kategorie eines »Vulgärpazifisten« fiele vermutlich auch mein Kamerad Jürgen Heiducoff, Oberstleutnant der Bundesluftwaffe. In der afghanischen Hauptstadt Kabul bekleidete er von Juli 2006 bis August 2008 das Amt eines »militärpolitischen Beraters der Bundesregierung«, also eines Militärattachés. Wie das Fernsehmagazin Monitor berichtete, hatte Heiducoff schon im Frühjahr 2007 in einem internen Schreiben an Außenminister Frank-Walter Steinmeier die fatale Entwicklung des Konflikts in Afghanistan ungewöhnlich scharf kritisiert, vor allem die »Eskalation der militärischen Gewalt«. Er nannte es »unerträglich, daß unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewußt Teile der Zivilbevölkerung und damit erhoffte Keime einer Zivilgesellschaft bekämpfen. Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung. Dies müssen die Paschtunen als Terror empfinden.« Weiter hieß es in dem Brief an den Außenminister: »Wir sind dabei, durch diese unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen der Afghanen zu verlieren«. Heiducoff warnte vor einer schleichenden, völkerrechtswidrigen Ausweitung des ISAF-Mandats: »Das Militär droht sich zu verselbständigen und sich von den politischen und völkerrechtlichen Vorgaben zu lösen.« Deutliche Kritik übte der militärpolitische Berater auch an der Informationspolitik der ISAF-Führung. Politikern und Parlamentariern gegenüber werde »die militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt. Auch deutsche Generäle beschönigen oder verschweigen eigene Probleme.« Dabei sprächen »die ständigen Forderungen nach Truppenverstärkung, die steigenden Kosten des militärischen Engagements, das Anwachsen eigener Verluste und die wachsende Zahl ziviler Opfer eine eigene Sprache«, die »die Ungeeignetheit und Ausweglosigkeit militärischer Gewalt als Lösung der inneren und äußeren Probleme Afghanistans« zum Ausdruck bringe.
Die Tragödie, die sich Anfang September bei Kunduz ereignet hat, bestätigt Heiducoffs Analyse auf erschreckende Weise. Doch Kritik, auch wenn sie von einem so profunden Sachkenner kommt, hindert die NATO bis heute nicht, gnadenlos weiterzubomben. Unverhältnismäßige Luftangriffe bedeuten massenhaften Tod in der Zivilbevölkerung. Welch eine Heuchelei, wenn NATO-Politiker und -Miliärs, die für solche Massaker verantwortlich sind, gleichzeitig stereotyp den als »radikalislamische Taliban« apostrophierten afghanischen Widerständlern »Feigheit« und »Hinterhältigkeit« bei deren Angriffen auf die Besatzungstruppen vorwerfen – während beispielsweise der US-Geheimdienst CIA mit unbemannten, ferngesteuerten Drohnen Ziele in den von Paschtunen bewohnten pakistanischen Grenzgebieten angreift; dabei sind bislang etwa 700 zivile Dorfbewohner ums Leben gekommen. Und aktuellen Berichten aus Washington zufolge will Präsident Obama noch mehr Todesdrohnen zum Einsatz bringen, anstatt, wie von seinem Feldherrn McChrystal gefordert, 45.000 weitere GIs zu schicken und damit amerikanische Leben zu riskieren.
Die Opfer der mit ihrer total überlegenen Luftwaffe so ungeheuer tapfer und zivilisiert kämpfenden westlichen Truppen sind zu 70 Prozent Frauen und Kinder. In einem besonders eklatanten Fall bombardierte die U.S. Air Force am 4. Mai 2009 zwei Dörfer in der Provinz Farah, wodurch elf Männer, 21 Frauen, 31 Mädchen und 34 Jungen umkamen. Dort setzte sie auch weißen Phosphor ein – ein Kriegsverbrechen. Aus dem Palast des Präsidenten Karzai folgte darauf die ultimative Forderung nach einem völligen Stopp der Luftangriffe auf afghanische Dörfer, doch der Nationale Sicherheitsberater der USA, James Jones, antwortete kaltschnäuzig, man könne doch von den USA nicht erwarten, daß sie mit einer auf den Rücken gebundenen Hand kämpften.
Solcher Zynismus liegt Welten entfernt von den Einsichten nachdenklicher und gewissenhafter US-Bürger wie Robert Bowman, die ich als Repräsentanten des wahren Amerika ansehe. Als Kampfpilot der amerikanischen Streitkräfte im Vietnamkrieg hatte Bowman selbst bei 101 Einsätzen Tod und Vernichtung vom Himmel geschickt. Später wirkte er als Bischof der Vereinigten Katholischen Kirche in Melbourne Beach im Staate Florida. Er geißelte die bellizistischen Reflexe seiner Regierung und deren Kriegspolitik mit den Worten: »Anstatt unsere Söhne um die Welt zu schicken, um Araber zu töten, damit wir das Öl, das unter deren Sand liegt, haben können, sollten wir sie mit dem Auftrag entsenden, deren Infrastruktur wieder in Stand zu setzen, reines Wasser zu liefern und hungernde Kinder mit Lebensmitteln zu versorgen.« Und er fuhr fort: »Kurzum, wir sollten Gutes tun anstelle von Bösem. Wer würde versuchen, uns aufzuhalten? Wer würde uns hassen? Wer würde uns bombardieren wollen? Das ist die Wahrheit, die die amerikanischen Bürger und die Welt hören müssen.« (Ossietzky hat Bowman schon zu Beginn des Afghanistankriegs ausführlich zu Wort kommen lassen.)
Auch den Bellizisten hierzulande sollte allmählich klar werden, was die von Gerhard Schröder verkündete »Enttabuisierung des Militärischen« in der Realität bedeutet: massenhaft Tod, Verwundung und Verstümmelung von Menschen, denen die NATO Menschenrechte, Freiheit und Demokratie verheißt. Mit Bomben werden solche Ziele sich nicht erreichen lassen – weder in Afghanistan noch sonstwo auf der Welt. Und der Krieg dient auch nicht unserer eigenen Sicherheit, wie der eines »Vulgärpazifismus‘« wahrlich unverdächtige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Ernst Uhrlau, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, bestätigen, wenn sie von einer gestiegenen Gefahr von Terroranschlägen sprechen und sie eben damit begründen, daß die Bundeswehr in Afghanistan Krieg führt. Sagen wir es dem neu gewählten Bundestag und der nächsten Bundesregierung mit der Parole, die in den USA zunehmend Echo findet: Bring our Boys back Home!
Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr und aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen vertritt.