Obwohl keine Expertin für islamische Länder, gehört Charlotte Wiedemann zu den wenigen Journalisten, die vorurteilsfrei über sie berichten. Sie kritisiert, wie sehr hierzulande ausgeblendet wird, »mit welcher Leidenschaft Muslime um das Gesicht ihrer eigenen Gesellschaften ringen, auch um die Rolle der Religion«. In ihren hauptsächlich im Auftrag der Zeit entstandenen Reportagen geht es häufig um Sichtweise und Engagement islamischer Frauen, die sie als »entschiedenste Protagonistinnen der Veränderung« erlebt hat.
Wiedemann selbst sieht keine Probleme, als ausländische Frau in islamischen Ländern zu recherchieren. Meistens benehmen sich auch Männer ihr gegenüber normal oder sogar betont respektvoll. Und wie es tatsächlich um die Frauenfrage bestellt ist, kann nur eine Frau erforschen. So berichtet sie Erstaunliches über das weibliche Berufsleben in Saudi Arabien, wo nunmehr immerhin zehn Prozent der weiblichen Erwachsenen erwerbstätig sind. Wie in allen islamischen Ländern beginnt Emanzipation eher in gehobenen Berufsgruppen. Nicht wenige Frauen arbeiten im Gesundheitswesen und in der Verwaltung, mitunter auch als Vorgesetzte von Männern. Allerdings verkehren die Chefinnen mit ihnen telefonisch oder per E-Mail. An den Universitäten gibt es heute mehr weibliche als männliche Studierende. Die strikte Geschlechtertrennung bringt es mit sich, daß auch 60 Prozent der Professoren weiblich sind (in Deutschland zwölf Prozent). Viele haben im westlichen Ausland studiert. Aber welch schreckliche Folgen die Geschlechtertrennung haben kann, zeigte ein Ereignis im Jahre 2002, als mehr als ein Dutzend Schülerinnen einer Mädchenschule qualvoll sterben mußten, weil sie ohne Schleier nicht aus dem brennenden Gebäude fliehen durften.
Wiedemann sprach mit der ersten Flugzeugpilotin des Landes, die vorerst nur ein Privatflugzeug steuert und eine schriftliche Autorisation vom Vater benötigt, wenn sie die Landesgrenzen überfliegen will. Das absurde, mittlerweile aber stark umkämpfte Autofahrverbot für Frauen wird von Bäuerinnen bereits häufig übertreten, die Waren oder Tiere transportieren. Bei wohlhabenden Städterinnen führt das Verbot zu dem Paradox, daß sie oft auf engstem Raum – nämlich im Auto – viel Zeit verbringen mit einem Mann, der weder ihr Gatte noch ein männlicher Verwandter ist. In den »family sections« von Restaurants hat Wiedemann beobachtet, wie Frauen unverkrampft mit den indischen Kellnern spaßten. In Jeddah, wo die Emanzipation offenbar am weitesten fortgeschritten ist, sind 3.000 Betriebe auf den Namen von Frauen ins Handelsregister eingetragen, und zwei Frauen wurden in den Vorstand der Handelskammer gewählt. Die fehlenden Freiheiten, sagen saudische Frauen oft, dürften nicht von außen aufgezwungen werden. Sie erwarten Respekt, kein Mitleid, das von der hohen Warte heutiger europäischer Standards her geäußert wird.
Im Iran war Wiedemann überrascht von Vielfalt und Individualismus, vor allem von der »Abwesenheit von Religiosität« und dem leichten Zugang zum Alkohol. Ausgerechnet im Mullah-Staat bekam sie nur selten einen Gebetsruf zu hören. Und die Menschen halten sich mit Kritik keineswegs zurück, die der Systemkritik in der DDR vergleichbar scheint: Ob es schlechte Leistungen im Fußballsport oder ein Verkehrsstau ist, immer sind die Mullahs schuld. Aus Abneigung gegen sie dekorieren viele ihre Wohnungen mit alten zoroastrischen Motiven. Eine Mutter sorgt sich nicht um die Tatsache, daß ihr Sohn homosexuell ist, sondern darum, daß er mit Doppelmoral leben muß. Wie viele Muslime heute versteht sie den Koran als historisch, in seiner Zeit verwurzelt: »Gott hat mir einen Verstand gegeben, daß ich selbständig denke.« Daß ihr Mann sie bis zur Scheidung zum Sex zwang, sei doch viel schlimmer als die Liebe von Schwulen. »Aber dazu sagt der Koran nichts.«
Der Reformtheologe Meybodi aus Qom sprach sich offen dafür aus, religiöse und staatliche Ämter zu trennen. »Der Staat darf weder Interpret noch Aufpasser über religiöse Dinge sein.« Die Religion dürfe nicht gegen Freiheitsbestrebungen instrumentalisiert werden. Der in Teheran lehrende Theologe Kadiwar, der die Revolution unterstützte und später für oppositionelle Haltungen im Gefängnis saß, sagt, daß Muslime weltweit aus dem Scheitern der Islamische Republik Konsequenzen ziehen müßten. Allerdings seien Amerikaner und Europäer nicht an Demokratie im Iran interessiert, sondern nur an iranischem Öl.
Trotz des unverhohlen geäußerten Leidens an der Doppelmoral meinten auch Wiedemanns iranische Gesprächspartner, daß sie ihre Probleme allein lösen müßten. Ihre Kultur würden sie verteidigen, eben weil sie sich nicht mit der Doktrin der Mullahs deckt. Eine Kinderärztin bittet resolut, folgendes im Westen zu drucken: »Die Iraner sind beleidigt von dem Bild, das im Westen von unserem Land gezeichnet wird. Alles, was hier falsch oder schlecht ist, wird im Westen aufgebauscht.«
Daß das Christentum, wo es Jahrhunderte Einfluß hatte, in Emanzipationsfragen nicht immer die Nase vorn hatte, zeigt ein Beispiel aus Nigeria. Im christlichen Südosten des Landes blieb mit den Stammesgesellschaften die archaische Sitte erhalten, daß manche Witwen das Wasser trinken müssen, mit dem der tote Ehemann gewaschen wurde. Die Menschen im Norden verstehen sich – moderner – als islamische Nation. Angesichts des Ölreichtums ist die Armut, die Wiedemann antraf, »obszön« und die Auffassung verständlich, daß islamische Wohlfahrt vor den Freiheitswerten zu stehen hat. Viele Nordnigerianer haben begriffen, daß das bei ihnen im Jahre 2000 eingeführte Scharia-Recht nicht die erhoffte »saubere Justiz« brachte und harte Strafen vor allem an Armen vollstreckt werden. Die Journalistin Bilkisu Yusuf, einst Leiterin des muslimischen Frauenverbands, kritisiert, daß zu viele Theologen nicht darauf hinwirkten, »eine progressive islamische Gesellschaft« zu schaffen. Scharia sei Synonym für Gerechtigkeit und sogar Demokratie und bedeute heute für viele, daß sie »den Gouverneur fragen können: ›He, von welchem Geld hast du dir dein teures Hemd gekauft?‹«
Wiedemann hat Amina Lawal besucht, die wegen nichtehelichen Geschlechtsverkehrs gesteinigt werde sollte. Die Tochter eines dörflichen Koranlehrers konnte nach der Lösung ihres »Falles« erneut heiraten. Heute lebt sie mit ihren fünf Kindern wieder im Elternhaus. Als die Steinigung drohte, wurde sie nicht nur aus dem Westen unterstützt, sondern vor allem aus der nigerianischen Zivilgesellschaft: von Anwältinnen, Frauenrechtlerinnen und Menschenrechtsgruppen – muslimischen und christlichen.
Seit der Einführung der Scharia ist in Nordnigeria niemand gesteinigt worden. Mehrmals wurden aber Amputationen vollstreckt und vor allem Prügelstrafen. Wie auch Aminas Beispiel zeigt, führen Scharia-Urteile nicht zum sozialen Ausschluß. Als Wiedemann mit einem Prügel-Opfer sprechen wollte, hatte sie den Eindruck, daß sich »ein abwehrender Ring muslimischer Brüderlichkeit« schloß. Den »Täter durch Fragen zusätzlich zu beschämen, das wäre nicht rechtens.«
Ein Pastor und ein Imam haben ein »Interfaith Mediation Center« errichtet, in dem das verlorene Vertrauen zwischen den Religionsgemeinschaften rekonstruiert wird. Sie gaben ein Handbuch heraus, in dem Friedensbotschaften von Mohamed und Jesus mit dem Ziel von »good governance« zitiert werden.
Nicht weniger aufschlußreich sind Wiedemanns Reportagen über zivilgesellschaftliche Aufbrüche in Libyen, Syrien, Pakistan, Jemen, dem Oman und nicht zuletzt in der Türkei. Das Buch zeigt: Die Menschen dieser Länder wünschen sich, daß die Feindschaft des Westens beendet und durch eine faire »Business-Freundschaft« ersetzt wird.
Charlotte Wiedemann: »Ihr wißt nichts über uns!« Meine Reisen durch einen unbekannten Islam, Herder, 224 Seiten, 14.95 €