Nun soll es doch losgehen. Der laut Selbstdarstellung »brutalstmögliche Aufklärer«, der hessische Ministerpräsident Roland Koch, will Ernst machen und tatsächlich aufklären. Allerdings nicht die Hintergründe der Spendenaffäre der hessischen CDU, für die sein Freund und Vorgänger im Amt des Landesvorsitzenden, der früherer Law-and-Order-Bundesinnenminister Manfred Kanther, und der damalige Landesschatzmeister Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein verurteilt wurden. Da bleibt er bei seiner durch und durch überzeugenden Aussage vor dem Wiesbadener Landgericht und dem Untersuchungsausschuß des Bundestages, daß er bei der Amtsübernahme weder von Kanther noch vom hochadligen Schatzmeister etwas über die aus angeblich jüdischen Vermächtnissen gespeisten Auslandskonten seiner Partei, immerhin 20,8 Millionen DM und damit 90 Prozent des Vermögens der Landes-CDU, erfahren habe. Weshalb hätte er sich auch für die finanzielle Situation seiner Partei interessieren sollen, als er deren Vorsitz übernahm? Auch zehn Jahre später bleibt er bei seiner »brutalstmöglichen Verschleierung«, die der SPD-Obmann im parlamentarischen Untersuchungsausschuß seinerzeit konstatierte.
Gegenstand seines jetzigen aufklärerischen Eifers ist auch nicht die Frage, welcher innere Schweinehund ihn gebissen hatte, als er 2007 den brutalen Überfall auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn zum Anlaß nahm, um vier Wochen vor den Wahlen mit fremdenfeindlichen Parolen auf Stimmenfang zu gehen und eine von den rechtsextremen Republikanern bejubelte Anti-Ausländer-Kampagne zu starten. Wozu auch? Hatte er doch schon 1999 ebenfalls in der Endphase des hessischen Landtagswahlkampfes mit einer Unterschriftenkampagne gegen eine von SPD und Grünen anvisierte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts dumpfe nationalistische Stimmungen geschürt.
Schließlich hat der Aufklärer auch nicht die Absicht, Licht in das Dunkel seiner Rolle bei dem Putsch zu bringen, mit dem die von Jürgen Walter angeführten SPD-Abgeordneten, die »Phantastischen Vier«, wie die Frankfurter Allgemeine titelte, die damalige Vorsitzende Andrea Ypsilanti stürzten und Koch das Verbleiben im Amt des Ministerpräsidenten sicherten. Solche Details wie das, daß Walter mit Kochs früherer Pressesprecherin verheiratet ist, besagen für sich genommen gar nichts, und wer ist denn schon ernsthaft daran interessiert, sie in Zusammenhang zu bringen? »Der Käs‘ is eh gegesse«, sagen die Hessen im allgemeinen und der aus Skandalen und Wahlniederlage auferstandene Ministerpräsident im besonderen.
Nein, Kochs plötzlicher Aufklärungsdrang Kochs geht in eine andere Richtung. Ihn bedrängt eine brisante Frage, die von geradezu schicksalhafter Bedeutung für sein Land ist: Wieso wird der »Unrechtsstaat DDR« verklärt, weshalb wissen Jugendliche so wenig über ihn, wie kann es sein, daß der Anteil derer, die die DDR nicht für eine Diktatur halten, groß und besorgniserregend ist? Hier sieht er dringenden Aufklärungsbedarf, und so richtete er in der ihm unmittelbar zugeordneten Landeszentrale für politische Bildung in Wiesbaden ein »Schwerpunktprojekt ›Politisch-Historische Aufarbeitung der SED-Diktatur‹« ein, das die Erinnerung an den Unrechtsstaat wachhalten soll. Erfahren in Sachen Aufklärung, sicherte er sich sachkundige Unterstützung. Als Leiterin des Projektes, für das im Landeshaushalt 200.000 Euro vorgesehen sind, stellte er der Öffentlichkeit höchstpersönlich Jutta Fleck vor. Unter diesem Namen nach ist sie nur wenigen bekannt, aber als »Frau vom Checkpoint Charly«, verkörpert von Veronica Ferres, wurde sie in dem allseits bekannten ARD-Propagandafilm einem Millionenpublikum als Opfer finsterer Stasi-Machenschaften und -Mordpläne sowie als Heldenmutter ihrer zwei angeblich »zwangsadoptierten« Töchter vorgestellt. Obwohl der mit riesigem Aufwand propagierte Film zu einem ziemlichen Reinfall wurde – laut dem Spiegel verkam »das Mauerdrama ... zu einer Mischung aus Spionageschocker und Polit-Schmonzette«, und Friedrich Schorlemmer, alles andere als ein Freund des MfS, nannte ihn »eine zweiteilige Horrorklamotte ... mit geradezu demagogischen Rührseligkeitsingredienzien« – genießt Fleck seit seiner Erstausstrahlung im Herbst 2007 ihre Rolle als Opfer, Freiheitskämpferin und Spezialistin für den SED- und Stasi-Staat. Als solche hat sie sich nun Herrn Koch in den Dienst gestellt und gelobt, noch viel mehr als früher in die Schulen zu gehen und gemäß dessen ausdrücklichem Wunsch intensiv für den Besuch der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen zu werben.
Koch hat also eine gute Wahl getroffen und von vornherein klargestellt, daß es ihm bei seinem Schwerpunktprojekt »politisch-historische Aufarbeitung« weniger um historische Wahrheit als um politische Wirkung geht, wie schon der Film durchaus gegenwärtige Ziele verfolgte. »Die Frau vom Checkpoint Charly«, meinte Schorlemmer, erfülle »alle Regeln von Demagogie und nachholender Verhetzung ..., bis die DDR als ein einziges Land des Schreckens erscheint und der Eindruck entsteht, dies müsse wieder und wieder erinnert werden, um die DDR noch einmal und noch einmal töten, delegitimieren und zugleich vor der heutigen politischen Linken warnen zu können, die sich angeblich von diesen Praktiken nicht oder nicht genug abgesetzt hat«. Mit dem »Schwerpunktprojekt« und der Bestallung der »Frau vom Checkpoint Charly« hat Koch das gleiche Ziel im Visier. Ihm geht es weniger um die DDR – für ihn ist auch »der Käs‘ eh gegesse« – als vielmehr um die Linkspartei, vor der er gerade noch mit Müh und Not sein Ministerpräsidenten-Amt retten konnte.
Unermüdlich hatte er darauf hingewiesen, daß »die Wurzeln jeder einzelnen Partei bedeutend sind«. Als Wurzel der CDU/CSU nannte er »die Idee der aus der christlichen Würde entwickelten freien und sozialen Gesellschaft ohne Konfessions- und Klassenunterschiede«, dagegen seien die Wurzeln der Linken »die SED und das DDR-Unrechtsregime«. Damit auch jeder diese fundamentale Erkenntnis versteht, formulierte er: »Die Linke hat ihre Wurzeln in der DDR-Diktatur unter der SED. So eine Partei brauchen wir in einem modernen Deutschland nicht.« Und so sprach er sich denn bei der Feier zur Inthronisation der »Frau vom Checkpoint Charly« entschieden für die »Verteidigung der Freiheit und Demokratie« aus und verhehlte nicht, daß es bei dem »Schwerpunktprojekt« einen »Zusammenhang mit den aktuellen politischen Diskussionen um die LINKE« gehe. Seinem Ruf als Aufklärer treu bleibend, fügte er hinzu: »Schule und Staat haben nicht das Recht zur Agitation, aber sie sind verpflichtet zur Aufklärung.« Bravo, ein rechtes Wort zur rechten Zeit!
Selten ist so offen eingestanden worden, daß es bei der Dämonisierung des untergegangenen ostdeutschen Staates nicht um eine historische Aufarbeitung der DDR, sondern vielmehr um die Verteufelung jeder politischen Kraft geht, die auch nur ansatzweise verdächtigt werden kann, für eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus einzutreten. Der hessische Aufklärer und Seinesgleichen schlagen die DDR und meinen die Linken. Falls diese Erkenntnis auch in der Linkspartei wächst, dann hat der Initiator des »Schwerpunktprojektes ›Politisch-Historische Aufarbeitung der SED-Diktatur‹« ein gutes Werk getan. Danke, Herr Koch!