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Titel2009

Das Sprungbrett und sein Publikum  (Matthias Biskupek)

Seit einem Jahr leitet Steffen Mensching die Geschicke des Rudolstädter Theaters (s. Ossietzky 23/08). Seine zweite Spielzeit begann mit einem Theaterfest, der erfolgreichen Wiederaufnahme des Revuestückes »Zwei Krawatten« und der Neuinszenierung von »Elchtest«, einem weltweit erfolgreichen Stück des estnischen Autors Jaan Tätte über Aussteiger und das Gefängnis der modernen Geldwirtschaft. Dieser Tage folgt eine Eigenproduktion namens »Drunter und drüber«.

Vor der offiziellen Spielzeiteröffnung aber ging es um eine weit zurückliegende Zeit an diesem Theater, eine winzige Zeitspanne. In einer fast zweihundertzwanzigjährigen Bühnengeschichte sind drei Jahre ein Nichts. Doch die Jahre von 1976 bis 1979 dauerten am Theater Rudolstadt vergleichsweise lang und prägten Erinnerungen.

Das Werkstattwochenende über diese drei Jahre, organisiert vom Theaterförderverein, hieß »Sprungbrett«, ein wackliger Begriff, um zu verdeutlichen, was Provinztheater in Künstlerbiografien, aber auch für die poetische Landeskunde bedeuten – und bedeuten könnten.

Der Förderverein des Theaters wurde vor drei Jahren gegründet, um drohender Verödung einer ehrwürdigen und lebendigen Kulturlandschaft entgegenzuwirken – und um kulturelle Landeskunde zu betreiben.

Die Kunde aus den Endsiebzigern für heute war eindeutig: Eine Schauspielabsolventengruppe aus Rostock, geschart um Oberspielleiter Klaus Fiedler, wagte politisches Theater in einem Lande, in dem das Wort »politisch« benutzt wurde, um ein verknöchertes, kümmerliches Kunstverständnis zu tarnen. Manches avantgardistische Stück traf auf ein Publikum, das damit verstört wurde. Das Publikum wurde also, wie man schon damals sagte, nicht »abgeholt, wo es stand«. Einst blutjunge, jetzt sacht älter gewordene Stimmen aus dem Auditorium dieser Veranstaltung ließen sich aber auch so vernehmen: Wir waren Schüler. Wir waren begeistert. Wir haben diesen Aufbruch als Ausbruch begriffen: aus bleiernen Verhältnissen, aus dogmatischer Erstarrung. Und von Beteiligten der Truppe, deren Auseinanderbrechen durch die Statthalter der Erstarrung begünstigt, aber auch durch den eigenen, gesunden künstlerischen Egoismus verursacht wurde, war zu hören: Was nützte mir später ein größeres Theater, wenn dort jene Ensemblearbeit, die ich in Rudolstadt als Gemeinschaftserlebnis begriffen hatte, nicht stattfand? Wenn Theater nicht mehr als Hand- und Kopfarbeit zu Erkenntnis- und Lustgewinn verstanden wurde, sondern nur noch als Aufstellfläche der eigenen Eitelkeit? Für mich, sagten mehrere der einstigen Protagonisten, folgte auf Rudolstadt das Sprungbrett nach unten.

Die Schauspieler von heute, die in der von ihrem Intendanten geleiteten Podiumsdiskussion saßen, begriffen vielleicht, wie seltsam die Lebenswege von Künstlern verlaufen können. Dem Triumph des sommerlichen Augenblicks kann heute der lange Winter der Arbeitslosigkeit folgen.

Daß Kunstproduktion sich aus lokal unterschiedlichsten Richtungen speist, aber einen Ort mit günstigen Bedingungen braucht, um aufzublühen, bestätigte das Gastspiel »Lily Passion«, ein Chansonabend, der an die berühmte französische Künstlerin Barbara erinnerte. Bärbel Röhl, die einst in Schwerin unter Christoph Schroth als Gretchen Erfolge feierte, hatte zuvor genau diese prägenden drei Jahre in Rudolstadt gearbeitet. Ihre Musiker kamen von l’art de passage um Tobias Morgenstern – den genialen Komponisten, Arrangeur und Akkordeonspieler. Der einstige Weimarer Student betreibt jetzt mit Thomas Rühmann das »Theater am Rand« in Deutschlands Nordosten: In dem Dorf Zollbrücke im Oderbruch hat er sein Refugium gefunden.

Es ist unendlich geforscht worden über die gesellschaftlichen Bedingungen, die die Weimarer Klassik zur Blüte brachte, über den kunstsinnigen Fürsten und die Kunstkenner, die zu Kunstkönnern wurden. Die Widerstände, denen sich engagiertes Theater in der DDR gegenübersah, waren ungeheuer, und die Knaben, die es nach den Bergen lockte, waren klein, aber sie wuchsen zu erstaunlicher Größe. Immerhin gab es damals noch jene Kultur-Häuser, die dem künstlerischen Nachwuchs zwar kein hohes, aber ein auskömmliches Einkommen boten, um sich zu erproben, das Publikum zu erheitern oder aufzustören. Kultur-Hoch-Zeiten kann es nur dort geben, wo die Gesellschaft und die jeweils Regierenden begriffen haben, daß es nicht genügt, Kunstgeschichte in einem festgemauerten Museum aufzubewahren. Die intelligenten Menschen müssen auch intelligent, sprich: schöpferisch arbeiten können.

Wenn die Thüringer Kultur demnächst einer halb- oder viertelneuen Regierung obliegt, sollte man der ins Stammbuch schreiben: Seid Euch bewußt der Theatermacht, die Euch gegeben! Doch was nützen Verse in den Stammbüchern der Herrschenden? Auch in der DDR erwies sich der Versuch einer Fürstenerziehung als wenig erfolgreich. Denn wenn im Rudolstädter Theater Ende der Siebziger an einer Revolution geprobt wurde – die Uraufführung fand erst zehn Jahre später statt, gänzlich anders als geprobt. Und der Erfolg des 1989er Spektakels ist weitere zwanzig Jahre später heftig umstritten.