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Titel2009

Der Witz als solcher  (Lothar Kusche)

Das neue Programm des Berliner Kabaretts »Die Distel« heißt »Lachen im Zeichen der Cholera«, worüber freundliche Leute lachen können, weil sie noch keine Cholera haben, während ihnen Medikamente gegen die Schweinegrippe eingeredet werden. Und zwar von der Pharmaindustrie, die sich selber seit langem mit der Rendititis verseucht hat.

Das gut zweistündige Programm kommt mit ganz wenigen Requisiten aus und wird von drei Kabarettisten (Timo Doleys, Michael Frowin und dem musikalischen Leiter, Pianisten und zugleich perfekten Akteur Franz-Josef Grümmer) brillant bestritten. Ein pantomimisches Glanzstück Grümmers ist die Verwandlung seines sympathischen Gesichts zur Maske einer beleidigten Leberwuscht innerhalb von drei Sekunden. Doleys und Frowin glänzen in ebenso geistreich wie bissig pointierten Solo-Texten von Frowin, Philipp Schaller, Christian Ehring, Dirk Pursche, Stefan Klucke, Martin Maier-Bode und Tom Reichel.

In den satirischen Dialogen lesen die Vortragskünstler ihre treffsicheren kritischen Witze einander von den Lippen ab. Das geschieht in unheimlichem Tempo. So schnell kann der Zuhörer kaum Luft holen, wenn er die Nuancen dieses Feuerwerks wahrnehmen und genießen möchte. Den doppelsinnigen Begriff der Schlagfertigkeit, gäbe es ihn nicht schon seit langem, müßte man für Frowin & Doleys erfinden. Der Regisseur Rüdiger Volkmer, der an der Filmhochschule Babelsberg studiert hat, ist nach dreijähriger Aspirantur an der Regiefakultät der Moskauer Theater-Akademie und anderen vielfältigen Erprobungen der richtige Mann, um auch die »Distel« auf Trab zu bringen. Streckenweise sogar auf Galopp, wie er an diesem Abend demonstrierte. Hut ab vor ihm, der auch »Künstlerischer Leiter der Schauspielschule Berlin des Europäischen Theaterinstituts« ist.
Daß Timo Doleys seine knospenden Gaben längst zu schönen Blüten entwickelt hat, beeindruckt jedermann. Natürlich auch die Damen.

Übrigens sind weder Cholera noch Vogelgrippe, Hühnerpest oder jene Krankheit, mit der man mir Angst machte, wenn ich als Kind weder Haferflocken noch Geflügel-Frikassee essen wollte, nämlich die »Große Chinesische Pferde-Rotze«, Gegenstand der theoretischen Randbemerkungen im Kabarett an der Friedrichstraße, sondern der deutsche Humor und Witz. Darüber konnte und kann man lange reden, und man tut es auch – sehr einfallsreich – an der »Distel«-Rampe. Im Programmheft werden Goethe und Böll zitiert, ferner Hermann Hesse, welcher den »höheren Humor« an sich selber entdeckte, der UFA-Dienstmann Paul Hörbiger, Lessing und immerhin Werner Finck: »Das schwierigste Training ist immer noch, sich selber auf den Arm zu nehmen.« Bei Sigmund Freud (»Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten«) ist der Witz eher unbewußt als komisch. Der französische Philosoph Henri Bergson beschrieb »Das Lachen« staubtrocken und kriegte folgerichtig einen Nobelpreis (1927).

Uns kleinen Leuten gefällt die Feststellung: »Deutscher Humor ist, wenn man trotzdem nicht lacht.« Frowin zitiert den Satz, verschweigt aber den Autor: Sigismund von Radecki (*1891 Riga, † 1970 Gladbeck).

Die »Distel« nennt die gegenwärtigen Ärgernisse nicht nur beim Namen, sondern beim Kern und beschreibt mit höhnischem Gelächter ihren Ursprung. Viel Humor füllt den Saal und hebt unsere Stimmung (ohne Stimmungs-Kanonen). Keine Spur von jenem »deutschen Humor«, den Radecki meinte.