Auf Einladung des Harman-Instituts in Erbil, das sich der Aufarbeitung des Genozids an den Kurden widmet, war ich zum zweiten Mal in der irakischen Region Kurdistan. Seit dem ersten Mal im Jahr 2001 hat sich viel verändert. Die US-geführte Invasion im Irak, von vielen Kurden begrüßt, führte zum Sturz des Baath-Regimes. Für ihre Unterstützung des Krieges auch durch Bodentruppen an der Seite der USA wurden die beiden großen Kurdenparteien, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) von Jalal Talabani und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) von Masud Barzani, die noch in den 90er Jahren in einem blutigen innerkurdischen Bürgerkrieg verwickelt waren, mit einer weitreichenden Autonomie der drei kurdischen Provinzen Erbil, Dohuk und Suleymania belohnt. Talabani wurde irakischer Staatspräsident, Barzani Präsident der kurdischen Autonomieregion.
Wer in Erbil am Flughafen landet, sieht nicht die irakische, sondern die kurdische Nationalfahne mit der gelben Sonne auf weißem Grund, eingerahmt von einem roten und einem grünen Streifen. Im Unterschied zum übrigen Irak gilt die Autonomieregion im Nordirak heute als weitgehend sicher, die Wirtschaft entwickelt sich, überall wird gebaut. Doch angesichts ungelöster Grenzfragen zur erdölreichen Region um Kirkuk und weiteren mehrheitlich kurdisch besiedelten Landesteilen außerhalb der Autonomieregion, grenzüberschreitender Militäroperationen der Türkei und des Iran, aber auch einer allgegenwärtigen Korruption und Vetternwirtschaft ist die Zukunft ungewiß. Und die Wunden der Vergangenheit sind noch lange nicht verheilt.
Am 16. März 1988 um 11 Uhr vormittags – mitten im Irak-Iran-Krieg, zu dem die USA beide Staaten aufgestachelt hatten – warfen irakische Flugzeuge im Tiefflug 100-Liter-Bomben mit einem tödlichen Gemisch aus Nerven- und Senfgas nahe der Grenze zu Iran über der irakisch-kurdischen Kleinstadt Halabja ab. Offiziell galt der Angriff Kämpfern der Demokratischen Partei Kurdistans und von ihnen in die Stadt geführten iranischen Soldaten. Doch zum Zeitpunkt des Angriffs waren nur Zivilisten in der Stadt. Mindestens 5.000 der 40.000 Einwohner von Halabja starben an diesem Tag, weitere 10.000 wurden lebensgefährlich verletzt, viele starben später an den Folgen des Giftes. Europäische Journalisten, die am folgenden Tag nach Halabja kamen, verbreiteten Schreckensbilder von übereinander liegenden Körpern toter Menschen und Tiere.
Der Angriff auf Halabja war nur eines von vielen Verbrechen des Baath-Regimes an der kurdischen Bevölkerung. Während der nach einer Koran-Sure »Anfal« (Beute) benannten Militäroffensive gegen kurdische Autonomiebestrebungen, bei der nach kurdischen Angaben 90 Prozent aller kurdischen Dörfer im Irak zerstört und bis zu 180.000 Menschen ermordet oder verschleppt wurden, kam in mindestens 42 Fällen Giftgas zum Einsatz.
Die Dokumentationsstelle für die Opfer der Anfal-Operationen im kurdischen Dohuk nennt detailliert die für die Aufrüstung des Irak unter Saddam Hussein verantwortlichen Unternehmen. Ermöglicht wurde die irakische Giftgasproduktion durch Firmen aus den USA, der Bundesrepublik, Großbritannien, Frankreich, China, Singapur, den Niederlanden, Ägypten und Indien. Dank deren Lieferung von Know-how, Labors oder Substanzen konnte die irakischen Regierung, die chemischen Waffen herstellen. Rund 60 Unternehmen aus der Bundesrepublik lieferten den weitaus größten Teil der Produktionsanlagen für die Kampfstoffe. »Für Deutsche in Deutschland ist Giftgas eine ganz furchtbare Sache – Kunden im Ausland stört das nicht«, rechtfertigte sich später der Geschäftsführer der Firma Karl Kolb, Dieter Backfisch. Die Firma verkaufte seit 30 Jahren »wissenschaftliche Laborausrüstungen« in den Irak. Sie unterhält auch heute wieder eine Vertretung in Bagdad.
Doch von einer deutschen Mitverantwortung will die Bundesregierung nichts wissen. »Die ausschließliche Verantwortung für die Vorfälle von Halabja liegt bei der irakischen Regierung«, antwortete die Bundesregierung pünktlich zum 22. Jahrestag des Angriffs auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zum Thema »Entschädigung der Opfer des Giftgas-Massakers von Halabja 1988«, und sie beteuerte: »Illegale Lieferungen deutscher Firmen in den Irak sind … gerichtlich geahndet worden und werden erforderlichenfalls weiterhin zur Anzeige gebracht.« Damit fuhr sie fort, die deutsche Mitschuld zu vertuschen. Denn schon seit 1984 war die Bundesregierung durch die USA und den Bundesnachrichtendienst über die Rolle deutscher Firmen beim Bau der irakischen Giftgaslabore informiert gewesen. Vom Anspruch des Grundgesetzes, des Kriegswaffenkontrollgesetzes, des Außenwirtschaftsgesetzes und der Rüstungsexportrichtlinien her sind Beiträge zur Spannungs- und Konfliktverschärfung untersagt. Damals hatte Petra Kelly, Abgeordnete der Grünen, eine Anfrage an die Bundesregierung wegen der Beteiligung deutscher Firmen am Aufbau irakischer Produktionskapazitäten für Tabun und Senfgas in Samara gerichtet. Für die »katalogmäßig angebotenen Labor- und Produktionsanlagen«, so die Bundesregierung, sei keine besondere Ausfuhrgenehmigung erforderlich.
Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- oder das Kriegswaffenkontrollgesetz wurden in mehreren Fällen so lange hinausgezögert, bis sie wegen Verjährung eingestellt werden mußten. Nach Angaben der Regierung richteten sich die Ermittlungen gegen 22 Beschuldigte aus zehn deutschen Unternehmen. Am Ende wurden gerade einmal drei von ihnen zu Bewährungsstrafen verurteilt. Angeklagte kamen da sogar mit der Behauptung davon, sie hätten gedacht, mit der von ihnen gelieferten Technologie würden Kopfschmerzmittel produziert. In einem Antrag zur Entschädigung der Opfer, den der Bundestag im Jahre 2000 zurückwies, kritisierte die PDS-Fraktion, die 1987 eingeleiteten Ermittlungen seien »jahrelang verschleppt worden, verschärfte Strafrechtsbestimmungen griffen nicht, Ergebnisse der Erforschung der Anfal-Offensiven und Giftgaseinsätze sowie Erkenntnisse einer UN-Sonderkommission fanden nicht oder nur in selektiver Form Eingang in die Verfahren.«
Während kurdische Nichtregierungsorganisationen weiterhin beharrlich auf Entschädigungszahlungen dringen, hat die Kurdische Regierung die Opfer bislang im Stich gelassen. Viele Einwohner von Halabja werfen den regierenden Politikern eine Instrumentalisierung der Opfer vor. Im März 2008 kam es zu militanten Protesten am Mahnmal, als Tausende Demonstranten die Vertreter der Regionalregierung daran hindern wollten, an einer Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Ein 17jähriger wurde getötet, als der Sicherheitsdienst scharf schoß.
»Die Fragen nach der Beteiligung deutscher Firmen oder der Entschädigung der Opfer waren bislang bei den bilateralen Gesprächen zwischen Mitgliedern der Bundesregierung und der Regionalregierung Kurdistan-Irak kein Thema«, erklärte die Bundesregierung, die im März 2009 ein Konsulat in der kurdischen Hauptstadt Erbil eröffnete. Offenbar waren den Regierenden in Kurdistan profitträchtige Geschäfte mit der deutschen Wirtschaft wichtiger als Gerechtigkeit für die Opfer von Halabja. Regierungsunabhängige Medien verbreiteten die Kleine Anfrage der Linken und die Antwort der Bundesregierung. Meine Einladung durch das Harman-Institut war eine direkte Reaktion darauf. Ich traf mich mit dem Minister für Märtyrer- und Anfal-Angelegenheiten, Majeed Amadamin, und anderen Regierungs- und Staatsvertretern; der Minister kündigte an, daß kurdische Regierungsvertreter in Zukunft im Rahmen der bilateralen Beziehungen zur Bundesrepublik auch die Frage der deutschen Mitverantwortung für die Verbrechen des Baath-Regimes zur Sprache bringen werden.
Ich habe die damaligen Orte des Grauens – darunter Halabja und das während der Anfal-Operationen besonders betroffene Barzan-Gebiet aufgesucht und mit Überlebenden der Massaker gesprochen. In Halabja habe ich am Mahnmal der Opfer des Giftgasangriffs gedacht und die erschütternden Bild- und Filmdokumente sowie die Ausstellung im Museum besichtigt. Bis heute warten die Bewohner der Region vergeblich auf Hilfe und Entschädigung. Dieses Gebiet gehört zu den ärmsten Teilen der kurdischen Autonomieregion, in vielen Dörfern fehlt Infrastruktur, es gibt kein sauberes Wasser und nur unzureichende Gesundheitsversorgung. Krebs-, Haut-, Atemwegserkrankungen und genetische Mißbildungen bei Neugeborenen gehören bis heute zu den Folgen des Giftgaseinsatzes.
Auch die Bundesregierung weiß: »Viele Überlebenden leiden noch heute unter physischen und psychischen Spätfolgen dieser von irakischen Regierungstruppen durchgeführten Verbrechen... Ein Großteil der von den Giftgasangriffen von Halabja unmittelbar betroffenen Personen hat dauerhafte Gesundheitsschäden erlitten, wie Hautkrankheiten und Nervenlähmungen.« Aber welche Konsequenzen zieht sie daraus? Die überlebenden Opfer fordern von der Bundesregierung vor allem eine Entschuldigung. Sie fordern, daß die Anfal-Operationen als Genozid anerkannt werden. Und sie fordern, daß die Händler des Todes, die für ihre Profite buchstäblich über Leichen gingen, endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Unterstützten wir sie dabei!