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Titel2010

Gefährlich gefräßige Datenkraken  (Rolf Gössner)

Die heftige Mediendebatte der letzten Monate um das Internet-Projekt Google Street View hat die unzähligen staatlichen, betrieblichen und kommerziellen Datenmißstände und -skandale der letzten Jahre in den Schatten gestellt. Die Frage, wie tief die Bilder von öffentlichen Straßen und Hausfassaden, ihre mögliche Verknüpfung mit anderen Informationen und die Veröffentlichung im Internet in Persönlichkeitsrechte der Hausbesitzer eingreifen, ist zwar nach wie vor nicht klar beantwortet und demgemäß auch nicht die Frage, ob man als Betroffener der Internet-Präsenz widersprechen (bis 15. Oktober) und die Fassaden pixeln, also unkenntlich machen lassen soll, wie dies Hunderttausende bereits getan haben. Klar ist hingegen, daß diese Widerspruchsmöglichkeit kein gesetzlich verbrieftes Recht der Betroffenen ist, sondern nur ein als »freiwillig« ausgegebenes Zugeständnis von Googles Gnaden.

Hier bedarf es dringend einer gesetzlichen Regelung, die zum Schutz der grundgesetzlich garantierten Informationellen Selbstbestimmung ein zentrales Widerspruchsregister vorschreiben müßte, in dem sich alle, die dies wünschen, gegen die Veröffentlichung persönlicher Daten im Internet verwahren könnten. Darüber hinaus sollte die Verknüpfung von persönlichen Daten etwa mit geografischen Angaben eingeschränkt und ein Bußgeld eingeführt werden, das auch Internet-Dienste wie das staatliche Solarkataster oder kommerzielle Geo-Projekte wie Google Maps oder Google Earth bei Verstößen gegen die Datenschutz-Bestimmungen zahlen müßten. Eine gesetzliche Regelung, die, wie geplant, als »rote Linie« die Mindestanforderungen für die Verarbeitung personenbezogener Geo-Informationen festschreibt und sich im übrigen mit einer bloßen Selbstverpflichtung der Betreiber begnügt, würde jedenfalls nicht ausreichen.

Am Beispiel von Street View zeigt sich deutlich, wie Datenschutz und Datenschützer dem rasanten technischen Fortschritt immerzu hinterherhecheln. Letztlich geht es nicht allein um dieses Einzelprojekt, sondern generell um die überfällige Anpassung des Datenschutzrechts an das Internetzeitalter, damit endlich ein effektiver Grundrechtsschutz in der digitalen Welt gewährleistet wird. Dazu gehört auch das Recht aller, persönliche Daten aus dem Internet mit Hilfe eines »digitalen Radiergummis« wieder entfernen zu lassen, wie es inzwischen auch Bundesinnenminister de Maizière (CDU) vorschlägt, weil »das Vergessenkönnen konstitutiv für humanes Zusammenleben« sei. Wie das rechtlich und technisch funktionieren kann, ist noch nicht geklärt.

Wochenlang geriet Google Street View in allen Medien zum Datenschutzproblem Nr. 1, obwohl dies doch nur ein weiterer Baustein für eine digitalisierte und vernetzte Welt ist – ein Baustein, der uns vordringlich daran hätte erinnern sollen, in welcher bedrohlichen Phase wir uns auf dem Weg in die Kontrollgesellschaft und den Überwachungsstaat bereits befinden und welche heiklen Datenprojekte noch geplant sind. Was also ist an diesem Baustein aus dem Unternehmen Google, das längst zu den berüchtigten Datenkraken gehört, so bemerkenswert, so freiheitsschädigend oder skandalös, daß ausgerechnet er diese gesteigerte Medien-Aufmerksamkeit verdient? Was ist mit all den anderen digitalen Entwicklungen und Datensammeleien in Staat und Gesellschaft? Schließlich bescherte uns ein ausufernder »Antiterrorkampf« schon weit besorgniserregendere Einschränkungen der Freiheitsrechte und eine Entgrenzung staatlicher Gewalten. Immer mehr sogenannte Sicherheitsgesetze haben dazu geführt, daß die Kontrollen in Staat und Gesellschaft immer dichter geworden sind – angeblich im Namen der Sicherheit, doch mit Sicherheit auf Kosten der Freiheit. Und kaum jemand scheint sich noch darüber aufzuregen.

Polizei- und Geheimdienstbefugnisse wurden seit 2001 erheblich ausgeweitet, betriebliche Sicherheitsüberprüfungen auf »lebens- und verteidigungswichtige« Einrichtungen ausgedehnt, biometrische Daten auf Funkchips in Ausweispapieren erfaßt und Migranten, besonders Muslime, unter Generalverdacht gestellt. Dem Bundeskriminalamt hat man geheime Präventivbefugnisse zugestanden, darunter den großen Lausch- und Spähangriff in Wohnungen, die heimliche Online-Durchsuchung von Computern und die präventive Rasterfahndung.

Doch wir haben es nicht nur mit präventiven oder repressiven Einzelbefugnissen zu tun, sondern auch mit Veränderungen der staatlichen Sicherheitsarchitektur. So werden Polizei und Geheimdienste – unter Verletzung des historisch begründeten Trennungsgebots – mehr und mehr vernetzt und verzahnt, so daß zusammenwächst, was nicht zusammengehört. Und die Bundeswehr wandelt sich zu einer nationalen Machtreserve, die vermehrt grundgesetzwidrig im Landesinnern eingesetzt wird – zum Beispiel während der Fußball-Weltmeisterschaft oder anläßlich der Proteste gegen den G-8-Gipfel, aber auch bei kleineren Ereignissen.

Der entfesselte, nur noch schwer zu kontrollierende Sicherheitsstaat im alltäglichen Ausnahmezustand rückt dadurch in greifbare Nähe – ein Staat, in dem der Mensch zum Sicherheitsrisiko wird und in dem Rechtssicherheit und Vertrauen allmählich verloren gehen. Das Bundesverfassungsgericht kam in den vergangenen Jahren kaum noch nach, Antiterrorgesetze ganz oder teilweise für verfassungswidrig zu erklären. Regierungen und Parlamentsmehrheiten hatten sich in all diesen Fällen bereitgefunden, unveräußerliche Grund- und Bürgerrechte, selbst die Menschenwürde und den Kern privater Lebensgestaltung einer vermeintlichen Sicherheit zu opfern.

Spätestens hier stellt sich dann die brisante Frage: Sollen Staat und Gesellschaft mit diesem Umbau und der Anhäufung von Kontrollinstrumenten auf Vorrat womöglich nicht nur vor Gewaltkriminalität und Terror geschützt werden? Wappnet sich der Staat in Wirklichkeit – gerade in Zeiten verschärfter ökonomisch-sozialer Krisen – vorsorglich auch gegen mögliche soziale Unruhen und Aufstände? Tatsächlich scheint der präventive Sicherheitsstaat in dem Maße aufgerüstet zu werden, in dem der Sozialstaat abgetakelt wird.

Diesem Prozeß der Zerstörung bürgerrechtlicher und sozialer Errungenschaften und dieser herrschenden Sicherheitsideologie müssen Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und politisch-soziale Bewegungen, müssen wir alle energischer entgegentreten – auch in Zeiten moderaterer Töne, wie sie Bundesinnenminister de Maizière (CDU) anschlägt, der deswegen gelegentlich als »Schäuble im Schafspelz« tituliert wird. Die jährlichen Großdemonstrationen in Berlin für »Freiheit statt Angst. Stoppt den Überwachungswahn« mit Tausenden von Teilnehmern sind ein hoffnungsvolles Signal. Desgleichen die fast 35.000 Verfassungsbeschwerden gegen die verdachtslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten – die größte Massenbeschwerde in der deutschen Rechtsgeschichte. Sie hat Anfang diesen Jahres dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht das zugrunde liegende Gesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärte, so daß die riesigen Datenvorräte bei den Telekommunikationsunternehmen unverzüglich gelöscht werden mußten. Allerdings ist damit die Vorratsspeicherung von Telekommunikations- und Handy-Standort-Daten, die einer verpflichtenden EU-Vorgabe folgt, noch immer nicht vom Tisch, denn das Bundesverfassungsgericht hat diese nicht generell für verfassungswidrig erklärt, sondern unter engeren Voraussetzungen zugelassen (Rolf Gössner in Ossietzky 6/10).

Seit Anfang 2008 bis zu besagtem Gerichtsurteil mußten sämtliche Telekommunikationsdaten, also Telefon-, Handy-, Email- und Internetverbindungsdaten, zwangsweise sechs Monate lang auf Vorrat gespeichert werden – ohne jeglichen Verdacht und Anlaß, nur damit sie bei Bedarf zweckentfremdet zur Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr verwenden werden können. Mit Hilfe dieses riesigen Datenreservoirs, das das Kommunikationsverhalten der gesamten Bevölkerung erfaßte, war es prinzipiell möglich, Bewegungs-, Konsum- und Persönlichkeitsprofile zu erstellen, geschäftliche Kontakte zu rekonstruieren und Freundschaftsbeziehungen zu identifizieren. Wie schnell das gehen kann, zeigten die Mißbrauchsfälle bei der Telekom, die diese Daten, quasi als Hilfspolizei des Staates, vorrätig halten mußte. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden werden mit solchen Vorratsdatenspeicherungen möglich. Insgesamt eine Bedrohung von freier Kommunikation und Meinungsäußerung, aber auch von Berufsgeheimnissen und Pressefreiheit.

Aus diesen Gründen sollten die Anstrengungen verstärkt werden, die zwingende EU-Vorgabe zur Vorratsspeicherung alsbald zu kippen. Denn auch unter engeren Voraussetzungen, wie sie das Bundesverfassungsgericht definiert, bleiben Vorratsdatenspeicherungen mißbrauchsanfällig und unverhältnismäßig. Das gilt im übrigen für alle Vorratsspeicherungen hierzulande und auf EU-Ebene, also auch für die SWIFT-Banken- oder Fluggast-Datensammlungen oder für den elektronischen Entgeltnachweis ELENA, jene zentrale Arbeitnehmerdatenbank, in der Sozialdaten von 40 Millionen abhängig Beschäftigten gespeichert werden – ohne konkreten Anlaß, nur damit man sie parat hat, sobald staatliche Sozialleistungen in Anspruch genommen werden. Auch dieser gewaltige Datenpool muß einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterzogen werden – und tatsächlich haben über 22.000 Menschen gegen ELENA Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt, um sich dagegen zu wehren, daß sie als Beschäftigte tendenziell zu gläsernen Menschen gemacht werden und ihre Daten fünf Jahre lang gespeichert bleiben.

Zum Schutz der Beschäftigtendaten hat die Bundesregierung endlich, nach jahrzehntelanger Verzögerung, einen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten sollen gestärkt und gegen ausufernde Videoüberwachung und Bespitzelung wirksamer geschützt werden – also gegen solche skandalösen Observationen, wie sie in den vergangenen Jahren immer wieder publik geworden sind. Der Gesetzentwurf ist zwar prinzipiell zu begrüßen, doch etliche Regelungen sind unzureichend, mißbrauchsanfällig und teilweise sogar kontraproduktiv, indem sie diverse Ausforschungsmöglichkeiten der Unternehmen erst legalisieren, anstatt sie zu verbieten oder wirksam zu beschneiden.

Zunächst das Positive: Künftig sind beispielsweise präventive Bluttests, so zur Drogen-, Schwangerschafts- oder HIV-Bestimmung, bei Stellenbewerbern und Neueingestellten in der Regel verboten – Ausnahmen gelten nur für bestimmte Berufsgruppen, etwa Piloten oder Chirurgen. Arbeitgebern soll künftig – auch in konkreten Verdachtsfällen – untersagt werden, ihre Beschäftigten heimlich zu videografieren oder abzuhören; im Falle des Zuwiderhandelns droht ein Bußgeld von bis zu 300.000 Euro. Offene Videografie in bestimmten Betriebsbereichen und auch der Einsatz von Privatdetektiven bei konkretem Verdacht auf eine Straftat sind hingegen erlaubt, ebenso – jedoch mit Einschränkungen – Positionsbestimmungen per Satellitenortung, Biometrie oder die Kontrolle des E-Mail-Verkehrs und des Surf-Verhaltens der Beschäftigten im Internet.

Der DGB kritisiert zu Recht die zahlreichen Gummiparagrafen und Schlupflöcher des neuen Gesetzeswerkes, die schwere Eingriffe in Persönlichkeitsrechte ermöglichen. So ist vorgesehen, daß sich Unternehmer im Rahmen der Korruptionsbekämpfung sozusagen als Polizisten in eigener Sache und im eigenen Hause betätigen können, um etwa per innerbetrieblicher Rasterfahndung Beschäftigtendaten mit anderen Informationen, etwa Telekommunikationsdaten, automatisch abzugleichen. Damit würden die skandalösen Schnüffelmethoden, wie sie etwa die Deutsche Bahn praktizierte, im Nachhinein gerechtfertigt und legalisiert. Außerdem enthält der Gesetzentwurf die umstrittene Regelung, daß Daten über die rassische und ethnische Herkunft, über Religion oder Weltanschauung, Behinderung oder sexuelle Identität, Gewerkschaftszugehörigkeit und Vermögensverhältnisse erhoben werden dürfen – aber nur, so heißt es beschwichtigend, wenn der Bewerber nicht diskriminiert werde. Erfassung und Verarbeitung solch sensibler Daten aus dem Privatleben der Arbeitnehmer eröffnen jedoch auch mit dieser rhetorischen Einschränkung ein weites Feld gerade für Diskriminierung und Mißbrauch.

Auf Hochtouren laufen gegenwärtig die Vorbereitungen für eine Neuauflage der Volkszählung. Sie rufen Erinnerungen an die 1980er Jahre der alten Bundesrepublik wach, ein Jahrzehnt erstarkender politisch-sozialer Bewegungen, in dem sich aus dem Gefühl eigener Betroffenheit eine wahre Datenschutzbewegung entwickelte (»Was tun, wenn der Zähler zweimal klingelt«). Initiativen zum Volkszählungsboykott schossen aus dem Boden, massenweise versammelten sich Betroffene in den größten Sälen, um sich informieren zu lassen und zu debattieren. Trotz dieser Neugier, trotz Widerstandsgeistes und Bereitschaft zum Zivilen Ungehorsam: Die Bewegung degenerierte allmählich zur bloßen Rechtshilfebewegung, die die staatlichen Verdatungs-, Verplanungs- und Kontrollfunktionen, also den strukturellen Hintergrund, aus dem Blick verlor. Tatsächlich ist die damalige Volkszählung harmlos gegen das, was sich seitdem mit der modernen Informationsgesellschaft und der wachsenden Kontrolldichte im öffentlichen und privaten Raum entwickelt und aufgetürmt hat.

Mit dem Zensus 2011 ist eine umfangreiche Erfassung und Zusammenführung von persönlichen Daten der gesamten Bevölkerung geplant. Dieser Zensus ist teuer, er verhindert auch – entgegen den schönen Ankündigungen – keineswegs politische und wirtschaftliche Fehlplanungen, vor allem greift er in Persönlichkeitsrechte ein. Ohne Einwilligung der Betroffenen werden deren Daten aus staatlichen Registern und Dateien zentral zusammengeführt. Außerdem werden bis zu zehn Prozent der Bevölkerung – bei Verweigerung mit Zwangs- und Bußgeldern – zur Auskunft über ihre private Lebenssituation gezwungen, wobei der Erfassungskatalog auch diskriminierungsträchtige Fragen nach Religion und Migrationshintergrund enthält. Über diese Stichproben hinaus sind alle Haus- und Wohnungseigentümer verpflichtet, Auskünfte über ihre Immobilien zu erteilen. Die Erfassung aller Bewohner von (Senioren-)Wohnheimen, psychiatrischen Kliniken oder Gefängnissen bringt die Gefahr sozialer Stigmatisierung mit sich. Die zusammengeführten Daten werden nicht etwa unverzüglich nach ihrer Auswertung gelöscht, sondern bleiben bis zu vier Jahre lang gespeichert und sind über eindeutige Ordnungsnummern zu heiklen Personenprofilen verknüpfbar. Insgesamt also eine enorme Gefahr für die Informationelle Selbstbestimmung, für Datenschutz und Datensicherheit (Ulla Jelpke in Ossietzky 17/10). So entsteht für einen langen Zeitraum eine riesige, schwer kontrollierbare zentrale Datensammlung mit erheblichem Mißbrauchspotential. Deshalb verdient nicht nur das so heiß diskutierte Geo-Internetprojekt Google Street View starke Gegenwehr, sondern eben auch der Zensus 2011 – und zwar nicht allein vor dem Bundesverfassungsgericht, wo gegenwärtig eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist, unterstützt von über 13.000 Personen.

Angesichts der skizzierten Gesamtentwicklung können wir uns ohnehin nicht allein auf die Verfassungsrichter verlassen. Angesichts staatlicher, kommerzieller und betrieblicher Kontrolle und Ausforschung, angesichts digitaler Vernetzung, biometrischer Vermessung und zunehmender elektronischer Verhaltenskontrolle und, nicht zu vergessen, auch angesichts des eigenen, oft leichtfertigen Umgangs mit persönlichen Daten – im Internet, in sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ, beim Einkauf mit Rabatt- und Kreditkarten, am Handy oder in Fernsehshows –, angesichts all dessen brauchen wir eine breite gesamtgesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Personendaten, über den Wert von Privat- und Intimsphäre und über das Problem ausufernder Überwachung und sozialer Kontrolle in einer Gesellschaft, die sich als freiheitlich, offen und demokratisch versteht. Bei der Lösung der drängenden Frage, wie der Ausverkauf der Privatsphäre und die Beschneidung der Kommunikationsfreiheit in einer modernen Informationsgesellschaft gestoppt werden können, sind nicht nur professionelle Datenschützer und Bürgerrechtler gefordert, sondern wir alle.