Die heißen Sommernächte vor 51 Jahren werde ich nicht vergessen. Wir saßen – einige Studenten aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – in Berlin-Steglitz in der Zimmermannstraße in Reinhard Streckers Dachgeschoß und retteten mutmaßlich unschuldige bundesdeutsche Justizpersonen vor dem Verdacht, Blutrichter der Nazis gewesen zu sein. Sehr erfolgreich waren wir nicht.
Zwei oder drei, genau weiß ich es nicht mehr, waren einer Namensverwechslung zum Opfer gefallen, die anderen, hundert oder weit mehr waren, was sie waren: blutverschmierte Robenträger, die wieder ihr Recht sprachen. Reinhard Strecker hatte aus polnischen Archiven – in Bundesdeutschland blieb ihm der Zugang zu den Akten verwehrt – Kopien von Todesurteilen geholt und die jährlichen Justizhandbücher besorgt, die aus der Nazi-Zeit und die neueren. In mühevoller Arbeit verglichen wir, ob die Beschuldigungen aus DDR-Dokumentationen gegen bundesdeutsche Richter berechtigt waren. Sie waren es nahezu immer.
So entstand die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz«, die erstmals am 27. November 1959 in Karlsruhe, der Residenz des bundesdeutschen Rechts, und dann, begleitet von vielen Behinderungen, Drohungen und Verleumdungen, auch in vielen anderen Städten gezeigt wurde. Ausgestellt wurden Urteile und Personalakten von über hundert Juristen, großenteils NSDAP-Mitgliedern, aber auch anderen, die sich von ihnen in der Brutalität ihrer Todesurteile nicht unterschieden.
Es kamen nicht viele Besucher, insgesamt wohl rund 200. Aber entscheidend war, daß Generalbundesanwalt Max Güde zu einer Stellungnahme, ja zum Besuch der Ausstellung bewegt werden konnte. Da half eine kleine Hochstapelei. Ich war damals gelegentlicher Mitarbeiter in der Berliner Spiegel-Redaktion. Ich rief an und bekam Güde ans Telefon (der jetzige Ossietzky-Redakteur Eckart Spoo war Zeuge des Gesprächs): »Hier Spiegel-Redaktion, Köhler.« Was er von der Ausstellung halte. Ob denn die Dokumente echt sein könnten.
Er kam. Das war der Durchbruch. Reinhard Strecker konnte den Generalbundesanwalt in einem langen Gespräch überzeugen. In einem bundesweit ausgestrahlten Fernseh-Interview erklärte Güde, daß die Dokumente echt seien, und er stellte fest: »Viele der Todesurteile hätten nicht zu ergehen brauchen. Sie hätten nicht ergehen dürfen, selbst auf der Grundlage der Gesetze, nach denen sie gefällt wurden.« Ein großer Erfolg. Nicht, daß einer der Mordrichter je verurteilt worden wäre. Aber es wurde ihnen deutlich nahegelegt, sich pensionieren zu lassen. Für keinen ein Nachteil.
Wer ist Reinhard Strecker? Ein siebenseitiger Spitzelbericht des staatsschützenden »Volksbunds für Frieden und Freiheit e.V.« – gegründet von dem engen Goebbels-Mitarbeiter Eberhard Taubert, der als Dokumentarfilmautor (»Der ewige Jude«) im Juden die Ratte erkannt hatte – vermerkt am 3. Dezember 1959 fast etwas mitleidig: »Vor drei Jahren begann der cand. phil. Reinhard M. Strecker […] sich mit der beruflichen Vergangenheit von Richtern und Staatsanwälten in der Bundesrepublik zu beschäftigen […] Strecker, der an der Freien Universität vergleichende Sprachwissenschaft und Indologie studiert, ist mit einem starken Rechtsgefühl behaftet. Auf eigene Faust unternahm er in Celle den Versuch, Personalakten ihm namhaft gemachter Richter einzusehen. Dieses wurde ihm verweigert.«
Es war nur konsequent, was dem mit einem starken Rechtsgefühl kontaminierten Reinhard Strecker passierte, als er 1961 bei Rütten & Loening ein Buch über den Mann herausbrachte, dessen Rassenkommentar vielen Bluturteilen zugrunde lag: Dr. Hans Maria Globke, Staatssekretär im Bundeskanzerlamt, Adenauers Lenker und Leiter und zugleich heimlich Generalsekretär und Schatzmeister der Christenunion. Mit zahlreichen Dokumenten bewies Strecker, daß der Rassenkommentator schon vor 1933 seinen Kampf gegen die Juden im Preußischen Innenministerium begonnen hatte. Als es auf dem Markt mit 27.000 Exemplaren erschien, wurde das Buch mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes und des Bertelsmann-Konzerns, zu dem Rütten & Loening gehörte, aus dem Verkehr gezogen. Die Bundesregierung hatte gedroht, künftig keine Bücher der Verlagsgruppe mehr für öffentliche Stellen anzukaufen. In vorauseilendem Gehorsam untersagte Bertelsmann bald darauf einem anderen seiner Verlage, Rolf Hochhuths »Stellvertreter« zu drucken.
Vieles mehr über Reinhard Strecker kann man heute bei Jürgen Bevers nachlesen, dem es 2009 doch noch gelang, eine Globke-Biographie herauszubringen (»Der Mann hinter Adenauer. Hans Globkes Aufstieg vom NS-Juristen zur Grauen Eminenz der Bonner Republik«, Christoph Links Verlag, 240 Seiten, 19.90 €). Inzwischen gibt es auch eine wissenschaftliche Untersuchung, die Dissertation »Die Ausstellung ›Ungesühnte Nazijustiz‹ (1959–1962). Zur Geschichte der nationalsozialistischen Justizverbrechen« von Stephan Alexander Glienke (Nomos Verlag, 350 Seiten, 59 €). Sie endet mit dem Wort des Präsidenten des Bundesgerichtshofs Günter Hirsch aus dem Jahre 2002: »Dieses Versagen der Nachkriegsjustiz ist ein dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben.«
Die Schulden, die Strecker für seine aufwendigen Recherchen auf sich genommen hatte, drückten ihn noch Jahrzehnte. Eine Universitätskarriere blieb ihm versagt. So muß er heute, im Gegensatz zu den Nazirichtern, die mit hohen Bezügen vorzeitig pensioniert wurden, von einer kleinen Rente leben. Sein Archiv ist zum großen Teil vernichtet – auf die gleiche Weise, wie dieser Staat auch in Köln mit seinem peinlichen Gedächtnis umgehen läßt. Als die U-Bahn von Steglitz zum Bahnhof Zoo gebaut wurde, ist in seinem Keller alles abgesoffen. Das war der Dank des Staates für den Mann, der ihn vom Schlechten zum weniger Schlechten befördert hat.
Reinhard Strecker war zwei Jahre alt, als Globke noch in der Weimarer Republik die ersten antisemitischen Bestimmungen ausarbeitete. Globke ist inzwischen tot, wenn man von Sarrazin absieht. Strecker wurde soeben 80. Glückwunsch!