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Titel2010

Über das Porträtieren  (Harald Kretzschmar)

Es gibt nicht nur Liebe auf den ersten Blick. Auch Sympathie oder Abneigung stellen sich über Blickkontakte her. Und wir können uns selbst erkennen – indem wir in den Spiegel sehen? Oder dadurch, daß wir wahrnehmen, wie andere unser Verhalten reflektieren? Wir sehen einander an und verarbeiten den Eindruck, den wir dabei gewinnen.

Als Porträtist bilde ich Menschen nicht nur ab. Ich bringe zum Ausdruck, was mich an ihnen beeindruckt. Das Porträt macht Gefühle sichtbar, Gedanken spürbar. Es vermittelt Haltung.

Bis vor kurzem wurde das Porträt noch originalfranzösisch Portrait geschrieben. Esoterisch angehauchte Geister bevorzugen nach wie vor diese Schreibweise. Ein gültiges deutsches Wort war mal Bildnis. Es lebt nur im Selbstbildnis weiter. Es war und ist eine hohe und alte Kunst, Gesichter zu bilden in Zeichnung und Malerei und Skulptur. In kunsthandwerklicher oder dekorativflächiger Verfremdung wirkt sie weiter. Geistiges wie Aura oder Charisma ist darin vermittelbar. Organischer Übergang zu Figürlichem ist elementar. Der Zusammenhang mit dem Körper ist unauflösbar. Jedes gute Porträt läßt mit der Körperhaltung und den Bewegungen der Hände den ganzen Menschen ahnen.

Nun gibt es Künstler und Künstler. Künstlerinnen und Künstlerinnen. Menschenkennerschaft erwerben nicht alle. Talent zur Menschengestaltung ist nicht allzu vielen gegeben. Bloß Abfotografieren tut es nicht. Man ist da leider sehr anspruchslos geworden. Oberflächlich scheint manches verführerisch und ist doch nur Tinnef. Unsere weiße Rasse zeigt sich im reproduzierten Farbfoto buntscheckig. Ein Wunder, daß die Betrachter noch nicht der Ekel würgt. Und auch die bloße Wiedergabe von abstrakten Farbnuancen oder Verformungen führt zu keinem Ergebnis, das den Namen Porträt verdienen würde. Filmregisseure und ihre oft grandios in Gesichtern spazieren fahrenden Kameraleute verstehen mehr davon. Sollen Schauspieler die letzten Gesichter liefern, die sich lohnen, porträtiert zu werden?

Wenn bildende Künstler gelegentlich mal ein Porträt zeichnen oder malen, ist das gewiß ehrenwert. Aber Menschenbeobachtung ist etwas anderes als das Gucken auf eine Landschaft oder einen Gegenstand. Mit anderen fühlen und ihre Erlebniswelt entdecken, der Originalität ihrer Gesichtszüge nachspüren, da geht es los mit der Porträtkunst. Genau hingucken und Formen aufspüren, das führt zum Erkennen, wie Gesichter gewachsen sind. Der Mensch ist ein eigentümliches Gewächs. Gute Porträtisten achten darauf, wie seine Ohren gewachsen sind oder wie seine Mundpartie spricht, auch wenn gar kein Wort zu hören ist. Rund um das Auge waltet ein eigener Kosmos von Ausdrucksmöglichkeiten. Die sensible Skizze als vorerst tastendes Ausdrucksmittel war mir immer besonders lieb. Anderen dient sie nur als erster grober Entwurf zu dann allmählich wachsendem Endgültigen.

Jahrzehntelang wirkte die politische Verteufelung jedweder realistischen Kunstäußerung verheerend auf die tradierte Porträtkunst. Der Siegeszug der abstrakten Kunst machte einiges nieder, was ihr überhaupt erst auf die Beine geholfen hatte. Nach der Devise »Opas Roman ist tot« wurden neben einer literarischen Gattung gleich auch das Ölbild, die Zeichnung und das Porträt nach der Natur so gut wie endgültig totgesagt. Ganze Hängekonzeptionen in Museen wurden umgestürzt. Knapp nach den grandiosen Porträts des Expressionismus von Kirchner über Nolde bis Bacon und Picasso brach der Höhenflug ab.

Anschließend schoß ein in Milliardensummen expandierender Kunstmarkt über alles menschliche Normalmaß hinaus. Folgerichtig pfiff er aufs Menschenbild. Was die von ihm hoch katapultierten Kunstgrößen ablieferten, mußte leider mit der Diffamierung der halben Kunstgeschichte subventioniert werden.

Glücklicherweise ist nun wieder alles offen. Von den politbürokratischen Bildnis-Aufträgen zum proletarischen Brigadier sind wir zur Zeit so weit entfernt wie von den total gesichtslosen Kartoffelköppen der minimal art. Und das ist gut so. Alles ist möglich, wie man so schön sagt. Es ist verlockend, den Grad des Abstrahierens von der Naturform zu testen, der dennoch Vitalität bewahrt. Wir lassen uns nach wie vor von der sensitiven Ausdruckskraft eines geschwungenen weiblichen Nackens faszinieren. Die übersteigerte Mimik in frühen Stummfilmen kann uns anregen. Wir verstehen immer noch und immer wieder die wortlose Sprache von Körperform und Gesichtsausdruck. Wir sind davon hingerissen. Und wir antworten darauf mit Zeichnerischem auf Papier oder Karton, mit Malerischem auf Holz, Pappe oder Leinwand, mit Plastischem aus Gips, Bronze oder Stein, mit jeglichem uns zur Verfügung stehenden Material.

Nichts ist selbstverständlich. Irrtümer und Fehlschlüsse lauern uns auf. Da lockt der Computer mit dem Internet und gaukelt uns eine perfekte virtuelle Welt vor. Inzwischen gibt es Künstler, die sich bereitwillig dort bedienen. Sie meinen, sie werden bedient, und am Ende werden sie beherrscht von der technisierten Glätte des nur mechanisch Erfaßten. Sie produzieren spannungslose Langeweile. Sie haben ihre Seele und die ihrer Porträtmodelle dem glänzend leuchtenden Schein geopfert. Seelenverkäufer der Neuzeit, deren organische Vitalität auch äußerlich von metallenem Piercing gekettet und von mechanisierten Tattoos überdeckt ist. Ihre Hunde wirken natürlicher als sie selbst. Der Zivilisationsschock zwingt sie in die Knie. Der aufrechte Gang erweist sich paradoxerweise als eine Voraussetzung, nicht das eigene Gesicht zu verlieren.

Ich persönlich kann nur sagen, an der Schwelle zum Achtzigsten bin ich noch lange nicht fertig mit dem, was wir Porträt nennen. Und was schlicht und ergreifend eine permanente Liebeserklärung an das vom göttlichen Funken erhellte menschliche Antlitz ist. Oder – um es etwas prosaischer zu formulieren – diese Menschenköppe sind doch einfach umwerfend. Die muß man doch einfach hernehmen und mit künstlerischen Mitteln sichtbar und erlebbar machen.