Alte Kleider und Mäntel. Hunderte hängen ordentlich in Reihen, nebeneinander, übereinander. Die Wand aus Mänteln ist das Bühnenbild von »Hamlet« in Hamburg. Im Thalia Theater zeigt Luc Perceval eine Neubearbeitung von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel. Vorn auf der Bühne (Annette Kurz) ein toter Hirsch mit langem Strick um den Leib. Der Vater Hamlets? Oder das Tote, Verwesende, Faule im Staate? Die Aufführung ist dunkel, im wahrsten Wortsinn. Manchmal brennt nur eine Kerze – das ist zu wenig. Auch wenn blutrote Hände aus dem Dunkel bedeutungsvoll aufscheinen. Ein »archaisches Märchen«, wie es dem Regisseur vorschwebte. Die Sprache – vieles ist weggefallen oder verkürzt – wirkt dennoch oder gerade deshalb intensiv. Wenn Hamlet (Josef Ostendorf), der dick und düster dasitzt, mit verzerrter Stimme »Gnädige Mutter-Frau« stammelt, wirkt er wie ein altes Kind oder ein Narr mit seiner Papierkrone. Er betont die Worte wie ein Fremder, falsch, fragend, widerständig. Und er gebiert aus seinem Schoß einen jungen Hamlet (Jörg Pohl), ein zweites Ich. Sein Verbündeter und Widerpart, dem er oft den Mund zuhalten muß, wenn der zu unbekümmert und aufbegehrend sein Innerstes herausschreit. Der alte Hamlet legt seinen Zweifel, sein Mißtrauen der Umwelt gegenüber in seine Sprache, die er bewußt behindert. Er spielt den Irren.
Manchmal reichen schon Bilder. Wenn Claudius, der neue König (André Szymanski) mit Gertrude, Witwe des alten und nun seine Ehefrau (Gabriela Maria Schmeide), sich in einem manieristisch gezierten Tanz vereinen. Falsch, alles unecht, nichts stimmt mehr. Also richtig. Polonius ist hier eine Frau (Barbara Nüsse), die, im Rollstuhl sitzend, sichtbar böse ihre Intrigen spinnt. Laertes, der Sohn (Sebastian Zimmler), versucht, sich ihrem Einfluß zu entziehen, erhöht sich, indem er auf Stelzen geht. Ophelia, seine Schwester (Birte Schnöink), im hellblauen Kleidchen, so klein und zaghaft, daß ihr noch drei Doubles beigegeben werden, die irgendwann auftauchen. Rosencrantz und Guildenstern hingegen und die Theatertruppe, die Claudius, dem Mörder, seine Tat vorspielt – all diese Rollen übernimmt ein einziger Akteur (Mirco Kreibich) und gestaltet sie glänzend durch Pantomime, Tanz, Akrobatik. Die Aufführung wird getragen, ja beherrscht von Musik. Jens Thomas am Klavier und mit der Gitarre macht vor allem durch seinen Gesang die Seelenzustände fühlbar. Wenn Hamlet die Luft zum Atmen fehlt, drückt es die Stimme aus: gepreßt, wie langsam erwürgt. Wenn Laertes riesengroß dasteht mit der Axt über Ophelia – man muß keine Tote sehen. Der Tod ist allgegenwärtig.
Die Schlußszene zerrt an den Nerven. Der junge Hamlet, der sich vom alten losriß und nackt über die Bühne lief (das muß wohl sein), kehrt zurück zum Alter Ego, zurück in Hamlets Kleider, die zur Zwangsjacke werden. Der junge Hamlet beginnt sich zu fragen, was er tun soll, tun kann, schreit all seine Verbitterung und Verzweiflung aus sich heraus. Der alte hält ihm den Mund zu: nicht nur die Konvention verbietet solches Schreien, solche Ehrlichkeit. Auf der Bühne sind Kinder, halb hinter der Mantelwand versteckt, die alles sehen und auch als Boten dienen. Sie werden zum Echo für Hamlets Wort-Kaskaden. Dieses Ja oder Nein, handeln, was töten heißt, oder nichts tun, was Zustimmung bedeuten kann – oder nicht. »Töte oder töte nicht – scheitere oder scheitere nicht.« Hamlet brüllt und zerrt weg von dem anderen Ich, steckt in den Kleidern fest, gefangen. Der alte Hamlet fragt, kaum hörbar, ob es einen neuen Krieg, ein neues Töten gibt. Ein Kind überbringt die Nachricht von der siegreichen Rückkehr aus Polen, vom »Polenfeldzug«. Wer zurückkehrte? Der neue König, Fortinbras – aber der ist in Hamburg gestrichen. Berechtigt ist die Frage: »Wer wird König?« Ein Siegreicher – nicht Hamlet. Schluß: der nicht beendete Satz vom Schweigen.
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Das war »Hamlet«, wie ihn Thalia bot.
Die Welt sah darin einen »Hamlet für Blöde«; ihr Rezensent hatte nämlich die Aufführung nicht verstanden. Alan Posener, ein Ex-Maoist mit einem lebenslangen Reuetrip nach rechtsaußen, nutzte die stilistischen Mittel eines Vorstadtkarnevalsvereins (immer wieder: »Tadaa! Regieeinfall!«) und schrieb, der Text verhalte sich zu Shakespeares Original »wie der Koran zur Bibel«. Warum? Der Name des Bearbeiters Feridun Zaimoglu weist untrüglich auf einen Türken, einen Muslim, einen Terroristen hin. Und schon hörte der Mann aus dem Springerhaus, was sonst keiner wahrnahm: »Muezzin-Gesänge«, die ihn daran erinnerten, daß wegen der Mohammed-Karikaturen in aller Welt dänische Botschaften abgefackelt worden seien. Werde aber Shakespeare vergewaltigt, klatschen die Leute, rügte Posener und fuhr fort: »Nicht daß man dem Abfackeln von Theatern das Wort reden möchte.« Das Wort nicht. Die Tat allein, sie ziert den wahren Mann. Gute Rezensentenarbeit für den neuen grünschwarzen Bürgermeister aus dem Heidelberger Burschenschaftlermilieu, der Theater in Hamburg abschaffen möchte, weil es Geld kostet. Das hat (30 Millionen) seine Partei schon für Peter Tamm aufgebraucht, der dafür ein Seemilitariamuseum gründete – Tamm, Ex-Chef des Springer-Konzerns, dessen Blätter einst den »Richter Gnadenlos« Ronald Schill und mit dessen Hilfe Ole von Beust an die Macht brachten. Daß Thalia-Intendant Joachim Lux mit einem Offenen Brief auf diese Art von Kritik antwortete (»Volksverhetzung«, »geistige Brandstiftung«), ist ungewöhnlich, aber angesichts der alle Kultur – außer dem Milliardengrab der Elbphilharmonie – erwürgenden Politik des Hamburger Senats verständlich. Der Intendant des Schauspielhauses, Friedrich Schirmer, ist wegen einer nicht mehr tragbaren Millionenkürzung aus der Hanseatenstadt geflohen, Bürgermeister Ahlhaus will das Amt jetzt einsparen.