Organisatorisch ist die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft trotz anhaltendem Mitgliederschwund ein Riesenbetrieb: An die 1000 Delegierte vertraten auf dem Bundeskongreß in Leipzig 2,1 Millionen Mitglieder, 1400 Anträge waren zu behandeln, fünf Millionen Euro soll das Treffen gekostet haben. »Eine Woche lang Klassenkampf« ironisierte der Tagesspiegel den Kongreß und lobte den mit 94,7 Prozent der Stimmen wiedergewählten Ersten Vorsitzenden: »Frank Bsirske hält den Laden zusammen.« Dafür werde er mit 177.000 Euro Jahresgehalt nicht einmal üppig bezahlt.
Die Gewerkschaft ver.di ist ein Sammelverband und muß Interessen der Beschäftigten in völlig unterschiedlichen Branchen zur Geltung bringen. Ihre Bastionen im Öffentlichen Dienst verfallen infolge der Privatisierungen und Auslagerungen; die Gewerkschaftsbewegung hat es insgesamt nicht geschafft, diesem gesellschaftspolitischen Trend Contra zu geben. Gerade im Bereich der Dienstleistungen breiten sich Minijobs aus, miserabel entlohnte Tätigkeiten, Scheinselbständigkeit und Leiharbeit. Da hat die »Agenda 2010« ganze Arbeit geleistet.
Bsirske hofft auf eine neue Bundesregierung, eine Koalition von SPD und Grünen »ohne Schröder und ohne Steinbrück«. Die werde dann der Forderung nach Mindestlöhnen zum Durchbruch verhelfen, erwartet er. Aber weshalb sollten die Regierenden, wer immer sie anführen mag, auf gewerkschaftliche Wünsche Rücksicht nehmen, wenn diese fromm bleiben und es außerhalb des Parlaments an Druck fehlt? In dieser Hinsicht herrscht bei ver.di Resignation.
Dem Kongreß lagen Anträge vor, eine gewerkschaftliche Kampagne zur allgemeinen Arbeitszeitverkürzung anzukurbeln. Bsirske dazu: »So etwas auf die politische Tagesordnung zu setzen, sind wir aktuell so gut wie nicht in der Lage.« Einschränkungen wie »aktuell« und »so gut wie« dienen dem Trost der Mitglieder.
Zuspruch bekam ver.di vom Bundespräsidenten, der seine Aufwartung machte und die »Sozialpartnerschaft« als »deutschen Standortvorteil« rühmte. Der ver.di-Vorsitzende klagte indes, dieses Modell sei »brüchig« geworden. Im Alltag des Dienstleistungsgewerbes ist aus Bruchstellen vielfach schon Verfall und Wegfall geworden. Immer mehr Unternehmer sind als »Partner«, mit denen man durch Verhandlungen zu einem Kompromiß kommen könnte, gar nicht mehr greifbar. Viele Betriebe drängen zur Tariflosigkeit, zur Individualisierung des Arbeitsvertrags.
Die soziale Kartografie des »Standortes Bundesrepublik« muß in den Vorstandsetagen der Gewerkschaften dringend aktualisiert werden. Wer die tiefe Zerklüftung eines Terrains nicht wahrnimmt, ist absturzgefährdet.