Der Theologe Heinrich Fink wurde 1990 als erster Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin demokratisch gewählt. 1991 setzte ihn der für die Hochschulen zuständige Berliner Senator Manfred Erhardt (CDU) ab und installierte eine Nachfolgerin aus dem Westen. Fink berichtet in einer Ossietzky-Serie über die Universität in der Wendezeit. Die ersten Beiträge erschienen in den Heften 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10, 12 und 13/2011.
Am 16. November 1989, nachts um 1.04 Uhr, war Redaktionsschluß für die erste Ausgabe einer unabhängigen, spontan gegründeten Studentenzeitung an der Humboldt-Universität; sie hieß noch namenlos. Eine Gruppe Studenten aus mehreren Fakultäten hatte sich zusammengefunden, um zur Demokratisierung ihrer Alma Mater aufzurufen und schon Geleistetes zu dokumentieren. Wer hätte damals geahnt, daß diese Zeitung die einzige Quelle bleiben würde, die geistreich und witzig, engagiert und kritisch über die Rolle der Studenten in der Universitätswende berichten würde. Die Chronisten der Professoren-Universität hingegen verloren die Studenten immer gleich aus den Augen.
Die beteiligten Studenten hatten sich für ihre Zeitung nicht erst die Erlaubnis der FDJ-Hochschulgruppe geholt und belasteten auch keinen Professor mit ihrem mutigen Unterfangen. Sie beanspruchten nicht, die Stimme aller Studenten zu sein, wollten aber wohl alle an ihrem Diskurs beteiligen. Schon in der ersten Ausgabe präsentierten sie als Gedächtnisstütze eine Chronik vom 16. Oktober bis 11. November 1989, die die Dynamik der Ereignisse auch den letzten Träumern vor Augen führen sollte.
Ob bei den Demonstrationen anläßlich der 40-Jahr-Feier zum Selbstlob der DDR, auf denen energisch nach dem verbesserbaren Sozialismus gerufen wurde, oder am 9. Oktober in Leipzig, als 70.000 Demonstranten die Stadt zuversichtlich in Bewegung brachten, immer waren damals Studenten beteiligt. Am 12. Oktober forderte eine »Vereinigte Linke« den Rücktritt des SED-Politbüros und die Bildung einer Übergangsregierung; das Neue Forum forderte seine Zulassung und die Entlassung politischer Gefangener. Am Tage zuvor hatte das Politbüro selber zum sachlichen Dialog aufgefordert. Die Studenten der Humboldt-Universität arbeiteten schon daran. Sie forderten ihre Professoren zum Dialog über konkrete Veränderungen im Hochschulbereich heraus und gaben damit Impulse für demokratischen Wandel. Die auf die Obrigkeit fixierten Chronisten jener Zeit lassen das leider unerwähnt – so auch anläßlich der 200-Jahr-Feier von Berlins ältestem Haus der Wissenschaft im Jahre 2010.
Begonnen hatte alles mit einer Einladung der damals relativ kleinen Sektion »Kulturwissenschaft/Ästhetik und Kunstwissenschaften«. Es sollte eine Resolution erarbeitet werden, daß angesichts der aktuellen politischen Ereignisse die Interessen der Studenten nicht länger nur von der FDJ vertreten werden könnten. Allein durch Mundpropaganda versammelten sich über 700 Studentinnen und Studenten. Weil in verschiedenen Räumen und auf dem Hof eine gemeinsame Diskussion nicht gelingen konnte, wurde für den 16. Oktober 1989 ein Vorbereitungstreffen und für den 17. eine StudentInnen-Vollversammlung im Audimax beschlossen. Alle stimmten einem Offenen Brief an den damaligen Rektor Dieter Hass mit fünf konkreten Forderungen zu: keine Restriktionen mehr aus politischen Gründen; keine Zensur bei Wandzeitungen; freier Zugang zu Bibliotheken; Archiven und Kopiertechnik; Abschaffung der obligatorischen Vorlesungen und Seminare in Marxismus/Leninismus, Abschaffung der sozialistischen Wehrerziehung.
Die erste Ausgabe der inzwischen beschlossenen Studentenzeitung, die am 16. November 1989 erstmalig erschien, berichtete von dieser ersten Vollversammlung: »Von vielen mit Spannung erwartet, von Krisenstäben fieberhaft vorbereitet: die große Diskussion im Hauptgebäude der Uni. Die FDJ-Kreisleitung hat die Initiative an sich gerissen, das Meeting auf dem Hof ist abgeschmettert, es werden Tausende kanalisierende Handzettel verteilt, Diskussionsleiter vorbestimmt, starke Sicherheitsaufgebote mobilisiert. Das alles zeugt von einer großen Angst vor der freien und ›unkontrollierten‹ Meinungsäußerung der Studenten; Gerüchte westlicher Medien tun das ihrige. Obwohl nirgends ein Plakat hing, kommen circa vier- bis fünftausend Studenten. In zehn Hörsälen werden die verschiedenen Probleme (große Politik bis Mensaessen) diskutiert, es geht hoch her, in einigen Sälen wird konstruktiv an Problemkatalogen gearbeitet und vor allem: Demokratie geübt.«
Bei aller Unzulänglichkeit: Diese Veranstaltung der Studenten war die Generalprobe für eine – damals noch erhoffte – demokratische Erneuerung der DDR-Universitäten und -Hochschulen aus der eigenen Kraft der Studenten und des Lehrkörpers. Schon am 27. Oktober 1989 trafen sich 22 Studenten, als Delegierte von zehn Sektionen gewählt, um ein Konzept zur Demokratisierung der Universität zu erarbeiten. Zuerst ging es ihnen aber darum, die Forderung nach einer unabhängigen studentischen Vertretung zu beschließen, die in die neue Geschichte der Humboldt-Universität als »Interessen-Gemeinschaft Studenten-Vertretung« eingegangen ist (IG Stu-VE). Die Losung »Vorsicht Stu-VE« wurde auf vielen Transparenten bei Demonstrationen und Kundgebungen getragen.
Tatsächlich wurden die spontan gewählten Studentinnen und Studenten umgehend vom Rektor zu einem Gespräch eingeladen. Ihre Forderungen wurden akzeptiert, und in der schon erwähnten ersten Ausgabe der Studentenzeitung hieß es in einem ausführlichen Artikel »Schlachtung der heiligen Kühe«, daß tags zuvor der Rektor persönlich in einer Sitzung der Sektionsdirektoren die Erfüllung der Forderungen der Studenten zugesagt habe.
Das löste nun tagelange heftige Diskussionen aus. Schließlich trafen sich Studenten-Delegierte aus allen Hochschulen der DDR in der Berliner Schauspielschule, und man einigte sich auf ein studentisches Koordinierungsnetz und auf die demokratische Struktur zu wählender Studentenräte. Als der Minister für Hoch- und Fachschulwesen, weil er den Beschlüssen der Studenten zustimmte, eine Urabstimmung für überflüssig hielt, setzten sich die Studenten durch. Sie organisierten Urabstimmungen, um den Studentenrat durch die Basis zu autorisieren zu lassen. Auf der inzwischen legendären Kundgebung der Hunderttausend auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November präsentierten die Studenten stolz ihre Plakate mit »StuVE – es geht aufwärts«.
Statt Erneuerung der Universitäten aus eigenen Kräften wurde alsbald überall in der DDR die »Abwicklung« praktiziert. Die zweite Ausgabe der noch namenlos hieß jetzt Unaufgefordert, weil die Studenten ihr Ja und Nein, Zustimmung und Widerspruch nicht aufgefordert, sondern in eigener Verantwortung drucken wollten. Optimistisch schrieben sie auf die Plakate, die sie bei Demonstrationen mitführten: »Wessis und Ossis haben die Bundesrepublik Deutschland nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.« Doch dann kamen andere Themen auf, und die Mahnwachen vor dem Haupteingang der Humboldt-Universität richteten sich »Gegen willkürliche Abwicklung« und dann »Gegen den Golf-Krieg«.
Unaufgefordert brachte noch jahrelang den Glanz studentischer Einmischung zu Papier, inzwischen wird die Studentenzeitung auf Glanzpapier gedruckt.