Das »Grips«, seit Jahrzehnten politisch engagiertes, gegenwartsnahes, emanzipatorisches – wie es der Gründer und langjährige Chef Volker Ludwig charakterisiert – Theater für Kinder und Jugendliche in Berlin, hat einen neuen Leiter. Stefan Fischer-Fels war von 1993 bis 2003 als Dramaturg am Grips, ging dann nach Düsseldorf, wo unter seiner Leitung das Junge Schauspielhaus zu einem der führenden deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheater heranreifte; jetzt ist er zurück. Und steht mit seiner Person für kreative Tradition und kontinuierliche Neuerung als Konzept, Programm und Aufgabe.
Als Einstand hat er eine Düsseldorfer Inszenierung mitgebracht und ins »Grips« integriert, leider war sie nur einmal zu sehen: »Demian«» nach Hermann Hesse (Bühnenbearbeitung und Regie Daniela Löffner, Ausstattung Claudia Kalinski). Und schon gingen die Dogmatiker unter den rezensierenden Fans auf die Barrikade: So gar nichts mit dem angestammten hauseigenen Realismus schienen die aufregenden, auch nervenden, auch schamlosen Szenen einer Jungmänner-Entwicklung zu tun zu haben. Koma-Saufen, artistisch zertanzte Bach-Orgel-Toccata (Szenenapplaus für Alexander Steindorf), Aerobic-Satire, esoterisches Händchen-Halten mit Grünzeug – fantasievolle, furiose Bilder, die auf den ersten Blick nicht zu Hesses drögem, altmodisch-verquastem Selbst-Aussage-Text passen wollen. Aber auf den zweiten doch und eben gerade: Sie konterkarieren den biederen Text brutal und verweisen auf das Ende der Gemütlichkeit: das des wilhelminischen Deutschlands ebenso wie das der gegenwärtigen Reste der Wirtschaftswunder-Republik. Und ganz am Schluß bekommen wir die Keule auf den Kopf und wissen spätestens jetzt, wie das alles gemeint und wozu es gut ist: 1914, die Schüsse von Sarajevo. Außer dem Helden sind alle, deren explosive Vitalität und seelenverrenkende Selbstfindungen wir betrachten durften, tot.
In der ersten Neu-Produktion der Saison geht es ein wenig sanfter zu. »Schöner Wohnen – Ein singender Umzug« (Text Franziska Steiof und Ensembles, Regie Steiof, Ausstattung Jan A. Schroeder, Musik Thomas Zaufke) knüpft an den Jahrzehnte-Hit »Linie 1« an.
Es geht um Gentrifizierung, das Thema ist politisch brisant und die Sympathie des Ensemble eindeutig. Ein Mietshaus, darin eine Handvoll höchst unterschiedlicher Leute: proletarisches Pärchen, überanstrengte alleinerziehende intellektuelle Migrantin, Hausbesetzer, Edel-Nutte, sogar ein smarter Yuppie ist dabei, der am Schluß FDP-Materialien verteilt. Das Haus wird verkauft, Luxussanierung, Mietsteigerung, ungewisse Zukunft – die Bewohner müssen sich damit auseinandersetzen. Das tun sie streitend, redend, Alternativen von Auflehnung bis Resignation erprobend in Szenen von argumentativer Klarheit und anrührenden Empfindungen. Und sie tun es singend! Wie das im realistischen Musiktheater so ist: Sprache reicht für die Gefühle nicht. Es muß raus! Und sie können singen, allesamt. Leider im Unterschied zur »Linie 1« nicht nur Eigenkompositionen, sondern auch Musical-Hits – die aber nutzen sie als Ausdruck authentischer Gefühle. Und auch wenn der Umzug-Rausschmiß halbwegs milde für alle Beteiligten ausgeht, die im Zuschauerraum Emotionen zündende Wucht der Musik signalisiert Protest und Auflehnung. So viel politisches Theater hatten wir in Berlin schon geraume Zeit nicht mehr.
Dies für Jugendliche und Erwachsene. Für die Kleinen gibt es die dritte Produktion zum Spielzeitauftakt: »Held Baltus« von Lutz Hübner, eine schräge kleine Komödie (Regie Jörg Schwahlen, Ausstattung Anja Kerschkewicz). Eigentlich nichts als eine Kinderzimmer-Geschichte. Baltus (6) klammert an der Mama, und die Mama hätte gern endlich mal wieder einen Kerl. Aber Baltus glaubt an Gespenster, und so landet der Lover in der Gespensterfalle. Weil wir nicht irgendwo, sondern im Grips sind, bekommen wir eine überaus fröhliche Lektion in Sachen Aufklärung: Gespenster gibt’s nicht, Repression durch leibhaftige, wirkliche Menschen ist zu bekämpfen. Eine Ohrfeige für Mystery-Phantasien, hell und nahrhaft und sauerstoffreich und gut für kleine Kinder-Hirne.
Das Grips-Theater im fünften Jahrzehnt seines Bestehens – wenn die so weitermachen, machen die noch lange weiter.