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Titel2012

»Kein schöner Land ...«  (Helmut Dahmer)

Nicht wenige fürchten gegenwärtig: »Das kann nicht gutgehen mit so vielen Nationen in einem Land.«

Deutschland liegt in der Mitte Europas, im Schnittpunkt vieler Völkerwanderungen. Auf dem heutigen Territorium der Bundesrepublik leben die Nachkommen von Menschen, die hier auf ihrer Wanderschaft haltmachten, sich festsetzten, vor dem Weiterwandern, dem Auswandern zurückscheuten. Zu einer »Nation« wurde diese Mischbevölkerung erst allmählich zwischen Mittelalter und Neuzeit. Der Dreißigjährige Krieg führte im 17. Jahrhundert zu einer Entvölkerung des Gebiets; neue Einwanderungen waren die Folge. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer Massen-Auswanderung in die europäischen Kolonien, vor allem in die »Neue Welt«, die heutigen USA, deren Bevölkerung sich ja (nach der Zurückdrängung und Ausrottung der indianischen Urbevölkerung) aus Kindeskindern von Einwanderern aus verschiedenen europäischen Ländern und von zwangsweise eingeführten afrikanischen Sklaven zusammensetzt.

»Staaten« überspannen in der Regel ethnisch »gemischte« Populationen, seltener relativ homogene. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Millionen Zwangsarbeiter aus ganz Europa gewaltsam nach Deutschland deportiert. Und nach 1945 wurden viele Millionen Vertriebene, Flüchtlinge und Einwanderer aus Osteuropa in die durch den Krieg dezimierte deutsche Bevölkerung aufgenommen, noch ehe der Import von »Gastarbeitern« begann. Für die nächsten Jahrzehnte schätzen Bevölkerungswissenschaftler und Ökonomen den Bedarf an Zuwanderern auf jährlich Hunderttausende oder gar Millionen von Menschen. Ohne sie läßt sich, weil die deutsche »Stammbevölkerung« altert, weder das derzeitige Produktionsniveau noch das soziale Sicherungssystem aufrechterhalten. Es wird also Zeit, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß in absehbarer Zeit ein großer Teil unserer Bevölkerung von nichtdeutschen Eltern abstammen wird. Davor muß man sich nicht fürchten, zeigt doch die Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands, daß viele Millionen von Einwanderern reibungslos »integriert« werden können, sofern die Wirtschaft wächst und der Lebensstandard steigt.

Die Geschichte der Vereinigten Staaten lehrt, daß multiethnische Gesellschaften, sogar solche mit rassischer Unterdrückung, allmählich ein die verschiedenen Ethnien, Kulturen und Sprachen überwölbendes Gemein-Interesse ausbilden können, ohne daß die verschiedenen nationalen Gruppen darum ihre Eigenart aufgeben müßten. Die Furcht vor »Fremden«, vor »Überfremdung«, ist unbegründet. Die Furcht vor »Fremden« gilt in Wahrheit gar nicht den Menschen, die anders aussehen, anders sprechen, andere Gebräuche haben, sondern dem gesellschaftlichen Wandel, der uns dazu nötigt, von gewohnten Lebensweisen Abschied zu nehmen, neue Unsicherheiten gegen vermeintliche Sicherheiten einzutauschen. Die Zuwanderer, die mit der Aufgabe, unter Fremden heimisch zu werden, schlecht oder auch allzu gut fertig werden, führen uns unsere eigene Situation vor Augen. Wir projizieren unsere Ängste vor Veränderung auf die zu »Fremden« gestempelten Zuwanderer, die uns als Boten künftigen Unheils erscheinen. Wir pochen ihnen gegenüber auf wohlerworbene Rechte. Schließlich waren »wir« zuerst hier (auch wenn dies »zuerst« vielleicht erst zwei Generationen zurückliegt und wir selbst die Abkömmlinge von Zugereisten sind). Ein Blick auf die deutsche Geschichte lehrt, daß es in deutschen Landen auch mit ganz gemischten Bevölkerungen oft »gut« ging. Sogar die jüdische Minderheit konnte zeitweilig in Frieden unter deutschen Christen leben, sogar die nicht seßhaften »Zigeuner« wurden mitunter toleriert. In Notzeiten freilich wurde solchen Minderheiten, wurde den »Fremden« alles Böse zugeschrieben; man machte sie für Hunger und Pest verantwortlich, für Inflation, Arbeitslosigkeit und Krieg. In solchen Notzeiten entstand die fixe Idee, nur ethnisch homogene Staaten seien vor Krisen und Kriegen gefeit; mehrere verschiedenen Ethnien im Rahmen eines Staates seien die Quelle allen Unglücks. Der daraus resultierende Wunsch, ethnisch reine Gemeinschaften gewaltsam (durch Vertreibung, Mord und Totschlag) »herzustellen«, hat im 20. Jahrhundert nicht nur in Hitlers »Drittem Reich«, sondern auch in anderen Ländern Millionen Opfer gefordert. »Besser« ist es nach solchen »Säuberungen« und Transfers bisher keiner der gewaltsam voneinander getrennten Bevölkerungen gegangen. Wieso auch? Ob es mit vielen Nationen in einem Lande gut ging oder gut gehen wird, liegt nicht an den vielen Nationen, sondern an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes und an seiner Stellung auf dem Weltmarkt, daran, ob seine Bevölkerung sich in internen Kämpfen verzehrt und aufreibt oder ob die verschiedenen Ethnien in der Wirtschaft des Landes kooperieren – ob sie die Ungleichheit der Einkommen, des kulturellen Niveaus und des Anteils an der Macht allmählich überwinden oder ob die Reichen reicher, die Armen ärmer werden und der Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums die gesellschaftliche Entwicklung lähmt.

Es kann sehr gut gehen mit vielen Nationen in einem Land!

Vorabdruck, leicht gekürzt, aus »Interventionen« von Helmut Dahmer. Das Buch erscheint Ende September 2012 im Verlag Westfälisches Dampfboot, 180 Seiten, 19,90 €. Helmut Dahmer ist Soziologe aus der »Frankfurter Schule« und lebt als freier Publizist in Wien.