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Titel2012

Im Namen des restlichen Drittels  (Thomas Rothschild)

Am 10. September konnte man in der Stuttgarter Zeitung den folgenden Satz lesen: »Die Älteren kennen es vielleicht noch aus dem Konfirmandenunterricht, für die Jüngeren ist es ein Exot – das Harmonium.«
Ich bin einer von den Älteren, ich kenne sogar ein Harmonium, aber ich habe als Kind von Agnostikern keinen Konfirmandenunterricht besucht. Wenn meine Eltern bei der Religion ihrer Vorfahren geblieben wären, dann wäre ich wohl auf die Bar-Mizwa vorbereitet worden. Ich hatte also keine Chance, konfirmiert zu werden und die aus solchem Anlaß üblichen Geschenke zu bekommen.

Nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland hat den Konfirmandenunterricht besucht. Und selbst wenn man großzügig die Vorbereitung auf die katholische Firmung hinzurechnet (benutzt man dort das Harmonium?), bleibt mehr als ein Drittel, das der oben zitierte Satz einfach nicht zur Kenntnis nimmt.

In Wien, wo ich zur Schule ging, hatten wir Gottlosen, sehr zum Neid der Gläubigen, Freistunde, wenn die Katholiken und Protestanten Religionsunterricht hatten. Der evangelische Religionslehrer, ein großer, auffällig gut aussehender Mann, dessen Ahnen übrigens Juden gewesen waren, lud uns Agnostiker, offenbar besorgt um unser Seelenheil, ein, seinen Religionsunterricht zu besuchen, und wollte mit uns diskutieren. In der Regel zogen wir die Freistunde vor, aber einmal kam es zu solch einer Diskussion, und ich entsinne mich des Arguments, mit dem uns der Lehrer für den Glauben zu gewinnen hoffte: Was wäre denn der Sinn eines Blitzes, fragte er rhetorisch, wenn es keine höhere Macht gäbe. Ich ahnte schon damals, daß die Ursache des Blitzes eher mit Luftfeuchtigkeit und elektrischer Aufladung als mit Gott zu tun habe, und einen Sinn des Blitzes im teleologischen Verständnis konnte ich nicht entdecken, noch habe ich ihn, um ehrlich zu sein, vermißt.

Entschieden rücksichtsloser als der evangelische Geistliche kämpfte die damals noch keineswegs ökumenisch denkende Konkurrenz um unsere Seelen. Der katholische Religionslehrer, schon äußerlich vom Protestanten durch seine schwarze Tracht deutlich unterschieden, fragte einmal, mit Blick auf uns pubertierende Atheisten: »Was sollte jemanden, der nicht an ein jüngstes Gericht und an Höllenstrafen glaubt, davon abhalten, einen Mord zu begehen?« Da standen wir also, entlarvt als potentielle Mörder, weil uns nichts als das Gewissen, dieser höchst unzuverlässige Geselle, an Missetaten hinderte, die für Gläubige wegen der in der Tat nicht gerade zimperlichen Strafandrohungen bekanntlich nicht in Frage kommen.

Ein Leben lang fühlte ich mich als Außenseiter. Dieses Gefühl teile ich mit der zunehmenden Zahl der Agnostiker ebenso wie mit den Mitmenschen eines anderen als des christlichen Glaubens. Ich hielt das lange für selbstverständlich. Aber das ist es nicht. Erst wenn sich kein Kind und kein Erwachsener mehr dafür rechtfertigen muß, daß er an keinen oder an einen anderen Gott glaubt, leben wir tatsächlich in einem säkularen Staat, wie ihn die Verfassung vorschreibt. Erst wenn die Christen, Protestanten wie Katholiken, begreifen, daß ihr Gott nicht ewig, sondern vergänglich ist wie Zeus und Aphrodite, wird das Gerede von der Toleranz überflüssig, weil es niemanden gibt, der andere zu tolerieren hätte. Noch überdauert der Glaube an den »richtigen Gott« den immer spärlicheren Kirchenbesuch, noch treibt der Staat für die anerkannten Kirchen die Steuern ein, aber das muß nicht so bleiben.

Als in Wien kürzlich ein Rabbiner mit Hitlergruß angepöbelt wurde und die Polizei grinsend zusah, erklärte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich, »für die gläubigen Christen« sei jede »Form des Antisemitismus« ein »Verrat des Glaubens an Gott«. In Österreich dürfe es »keinen Platz für Antisemitismus« geben. »Man kann nicht Christ sein, wenn man die Wurzeln des Evangeliums im Bund Gottes mit dem jüdischen Volk leugnet.« Bedarf es solcher Begründungen, um einzufordern, was zu den tatsächlich selbstverständlichen Grundlagen einer Zivilisation gehört, die diesen Namen verdient? Sind Juden und Muslime nur schützenswert, wenn und weil sie mit den Christen »gemeinsame Wurzeln« haben?

Wann werden wir endlich befreit von der arroganten Herablassung, die sich als Richtwert definiert und allenfalls »toleriert«, was mit dem eigenen Glauben kompatibel ist? Wann wird die Verfassungsnorm endlich zur Verfassungswirklichkeit? Unter diesem Gesichtspunkt hat der aktuelle deutsche Bundespräsident einen Schritt in seine, nämlich in die verkehrte Richtung gemacht, als er den Satz des gescholtenen Vorgängers zurücknahm, wonach der Islam zu Deutschland gehöre. Er hätte ihn vielmehr ergänzen müssen: Der Islam gehört zu Deutschland wie Aufklärung, Skeptizismus und Religionskritik. Das kann man aber von einem Älteren, der den Konfirmandenunterricht besucht hat und wohl weiß, was ein Harmonium ist, nicht erwarten.