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Titel2012

Der Theaterspaziergänger  (Eckart Spoo)

Keinen anderen kenne ich, der aus eigenem Erleben so viel Geschichte des deutschen und europäischen Theaters in seinem Gedächtnis gespeichert hat wie Jochanan Trilse-Finkelstein. Wenn er als nunmehr Achtzigjähriger (geboren in Breslau am 10. Oktober 1932) in Berlin von Theater zu Theater spaziert, um die Ossietzky-Leser zu informieren, sprudeln seine Erinnerungen: Wer hat diesen Stoff früher schon bearbeitet? Wer hat diese Rolle einst in Rostock, Dresden, Wien, Zürich, Mailand oder Moskau gespielt? Wie haben andere diesen Schlüsselsatz skandiert – und wie muß man ihn skandieren? Am liebsten würde uns unser Autor alles erzählen, was ihm ein Theaterabend in Erinnerung ruft – und hätte dann in den meisten Fällen eindringlich zu beklagen, wie ärmlich, wie erbärmlich er im Vergleich zum früheren das heutige Bühnengeschehen findet.

Verklärte Vergangenheit? Nein. Allenfalls ein bißchen. Denn es ist doch einfach wahr, daß die Theater einst viel höhere Etats, viel größere Ensembles hatten (wohingegen wir heute immer mehr billige Ein- oder Zwei-, höchstens Drei- Personen-Stücke zu sehen bekommen), daß vor 50 und auch noch vor 30 Jahren viel länger, viel sorgfältiger geprobt wurde, daß Regisseure wie Wolfgang Langhoff, Benno Besson, Wolfgang Heinz, Bert Brecht oder Walter Felsenstein mit ihrer Hingabe und Erfahrung aus den Mitwirkenden alles herausholten, was in ihnen steckt, und alle Wahrnehmungskräfte des Publikums zu stimulieren versuchten, um ein Drama, wie sie es verstanden, allgemeinverständlich zu machen – was unter heutigen Bedingungen nur selten gelingen kann. Es schmerzt Trilse, wenn die Nach-Nachfolger solcher großen Theatermacher, die Bühne nicht als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, exemplarischer Kämpfe zur Verteidigung des Menschen gegen ökonomische, politische, militärische, ideologische Gewalt nutzen, sondern von realen Konflikten ablenken, unter Preisgabe aller Dramatik den Menschen als schicksalhaft Verdammten darstellen oder – gleichermaßen zynisch – die humanistische Weltliteratur für albernen Klamauk mißbrauchen. Und so sieht er mit immer neuem Erschrecken, wie das Theater, Schillers als »moralische Anstalt«, nicht nur allmählich von oben her weggespart (das Volk darf fernsehen), sondern zugleich von innen her ruiniert wird.

Trilse-Finkelstein hat sein enzyklopädisches Wissen in seinem »Theater-Lexikon« zusammengefaßt, das in stattlichen Auflagen (insgesamt 40.000 Exemplare) verbreitet ist. Er versteht es, einzuordnen und zu vermitteln, Zusammenhänge sichtbar zu machen, Horizonte zu erweitern; er hat diese Fähigkeiten auch als Hochschullehrer bewiesen. Und er war der ideale Lektor für die Abteilung Theater-Literatur des Henschel-Verlages, in dessen Reihe »Internationale Dramatik« er weit über 100 Bände herausbrachte, darunter Sammelbände mit Stücken aus Polen, Schweden, Mexiko, Brasilien.

Anfang der 1950er Jahre hatte er selber zu spielen und zu inszenieren begonnen: in Wien im Ensemble der von Rückkehrern aus der Emigration gegründeten Freien Österreichischen Jugend. Er wurde Leiter dieses Ensembles, das bis 1959 bestand. Mit Stolz erinnert er sich vor allem an Auslandsauftritte wie bei den Weltjugendfestspielen, an den damaligen Enthusiasmus zum Beispiel bei einer Vorführung im Moskauer Bolschoi-Theater. All diese kulturellen Aktivitäten hatten den Sinn, nach dem faschistischen Massenmord das Zusammenleben und Zusammenarbeiten zu feiern und zwischen den Menschen und Völkern Beziehungen herzustellen, die Faschismus und Krieg unmöglich machen sollten. Trilse-Finkelstein (den zweiten Nachnamen trägt er zum Gedenken an seine jüdische Mutter) ist geprägt durch seine Kindheitsjahre bei den jugoslawischen Partisanen. Von Breslau, wo sein Vater als Arzt gearbeitet hatte, war seine Mutter, Krankenschwester von Beruf, 1933 sofort mit ihm in ihre österreichische Heimat übergesiedelt; der Vater, politisch engagiert als linker Sozialdemokrat, war mitgezogen. Als 1938 die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschierte, wurde Prag zur nächsten Zuflucht. Über Bratislava führte die unfreiwillige Reise weiter ins ungarische Debrecen, dann über Triest nach Shanghai. Die Mutter vertrug das dortige Klima nicht, die beantragte Einreise in die USA wurde verweigert, 1941 kehrte die Familie nach Europa zurück. In Slowenien fand der Vater berufliche Verwendung bei den Partisanen und erhielt den Dienstgrad eines Majors. Auch die Mutter wurde gebraucht, um verwundeten Kämpfern zu helfen, als Leutnant.

Unvergeßlich, wie fremde und doch sogleich vertraute Menschen den Jungen mal hier, mal dort unterbrachten, um ihn zu schützen; unvergeßlich die Angst vor kroatischen Faschisten (»Sie machten die Drecksarbeit für die SS«); unvergeßlich das Bild einer Schule voller Kinderleichen – offenbar waren die Schüler mit einem Maschinengewehr hingemetzelt worden; unvergeßlich der Mut, der Einfallsreichtum, der Zusammenhalt der Kämpferinnen und Kämpfer in der starken, immer mehr erstarkenden, zuletzt 500.000 Soldaten zählenden Untergrundarmee, die von sowjetischen Fliegern mit Waffen und Munition ausgerüstet wurde, während US-amerikanische Flieger Medikamente und Lebensmittel abwarfen. Unvergeßlich die Siegesfeiern in Ljubljana und dann in Belgrad.

Jochanan Trilses Eltern gehörten dazu, fraglos akzeptiert. Aber die Mutter wünschte, dahin zurückzukehren, wo Deutsch gesprochen wurde; ihr fiel es schwer, sich in anderen Sprachen verständlich zu machen. Der Vater schlug das Angebot einer Chefarztstelle in Jugoslawien aus. Die Familie zog wieder nach Wien. Trilse machte Abitur (österr. Matura), absolvierte ein Schauspielstudium, versuchte, am Theater Fuß zu fassen, geriet in Auseinandersetzungen mit dem »Kampfbund für deutsche Kultur«, bekam Stimm-Probleme. Eine Freundin riet: »Komm doch in die DDR.«

Der Vater war inzwischen gestorben. Die Mutter, die ihre gesamte Verwandtschaft in Konzentrationslagern verloren hatte, zog nach Erfurt, der Sohn nach Leipzig, wo er bei Ernst Bloch und Hans Mayer studierte, aber nicht lange. Beide gerieten – es war die Zeit des hochkochenden Kalten Krieges und der schnellen bösen Verdächtigungen – unter politischen Druck und zogen es wie vorher schon der Bloch-Assistent Gerhard Zwerenz vor, in den Westen zu gehen. Zu jener Zeit wurde Trilses Mutter als »Titoistin« angeprangert (sie empfand unleugbaren Respekt für den weitsichtigen Kroaten, den Kopf des antifaschistischen Widerstands in Jugoslawien) und kam für einige Monate in Haft, über die sie später kein Wort sagte.

Trilse fand dramaturgische Aufgaben an Provinztheatern, bevor er endgültig von der künstlerischen auf die wissenschaftlich-publizistische Seite wechselte. Sein Widerspruchsgeist machte den SED-Kulturpolitiker Alfred Kurella auf ihn aufmerksam, der ihn zur Mitarbeit an der Heinrich-Heine-Gesamtausgabe verpflichtete; diese Arbeit zog sich bis ins Jahr 2000 hin. Seine Heine-Biografie er- schien nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel. So ergaben sich immer neue Wirkungsmöglichkeiten – in der DDR und über deren räumliche und zeitliche Grenzen weit hinaus. Einige Mühe verwandte er später auf den Jüdischen Kulturverein Berlin, der aber wie so manche kulturelle Initiative inzwischen mangels Finanzspritzen verdorrt ist.

Für längere Zeit gebremst war Trilse durch schwere Verletzungen, die er nach der »Wende« bei einem Nazi-Überfall in West-Berlin erlitt. Drei junge Männer attackierten ihn in der S-Bahn zunächst verbal (»Solche wie dich wollen wir nicht«), stießen ihn dann auf dem nächsten Bahnhof aus dem Wagen und traktierten den hilflos auf dem Bahnsteig liegenden Mann mit Stiefeltritten. Der Stationsaufseher benachrichtigte die Polizei, ein Täter wurde gefaßt, der aber später leugnete; keiner wurde verurteilt. Zu den Folgen gehörte eine zersplitterte Hüfte. Das Leben wurde anstrengender. Aber die Arbeit ging weiter. Kürzlich hat Jochanan Trilse-Finkelstein eine dickleibige Hacks-Biografie fertiggestellt.