Das Umschlagbild zeigt eine freundlich lächelnde, barbusige Weibsgestalt, in der Rechten einen dicken Stift und in der Linken ein Riesenbuch, das Buch der Geschichte. Das ist Clio, die Schutzgöttin der Historiker im Musenrondell des Parks von Sanssouci (nebenbei: Google behandelt Clio wie die Bundesexpräsidentin: Man soll sie »hautnah« erleben – zwölf der dreizehn ersten Eintragungen handeln von einem »wendigen« Kleinwagen). Die Blöße ist mit einem Tuch bedeckt, diese liebe Muse ist verlogen: Friedrich Christian Glume schuf sie für jenen Großen Friedrich, der den Herausgeber der Gazette de Cologne, Jean Ignace Roderique, auf offener Straße zusammenschlagen ließ – der hatte seine Siege in den Schlesischen Kriegen zu wenig gewürdigt. Das ist Potsdam.
In Wuppertal aber hockt Clio unten, die Rechte mit dem Stift hoch erhoben, bereit zum Diktat. Gut einen Meter über ihr, die Stiefel Otto von Bismarcks, dessen Restgestalt mit Pickelhaube und Kürassieruniform sich siegreich in den Himmel reckt. Die Kölner Zeitung vom 19. Januar 1900 beschrieb die Konstellation zwischen Täter und Historiker auf dem gerade eingeweihten Denkmal korrekt: »Zu Füßen des Reichskanzlers sitzt die Muse der Geschichte mit abgelegtem Helm und Schwert, um mit ehernem Griffel die Großthaten des gewaltigen Reichsschmiedes ins Buch der Geschichte einzutragen.« Diese Muse und ihr Herr, sie sitzen und sie stehen heute – Gedenken will gelernt sein – auf dem Geschwister-Scholl-Platz zu Wuppertal.
Das Denkmal des Eisernen Kanzlers mit der Clio unterm Stiefel ist abgebildet auf Seite 21 von Kurt Pätzolds Broschüre »Der Vergangenheit entgeht niemand«, die der Berliner Historiker mit den verschiedensten Darstellungen der Geschichtsmuse illustriert. Untertitel: »Vergnügen mit Clio? Nicht nur. Über die Muse der Geschichtsschreibung und den Umgang mit der Vergangenheit durch die Historiker.« (spotless Nr. 255, edition ost, 96 Seiten, 5,95 €)
Da kennt Pätzold sich aus. Bei der feindlichen Übernahme der Ostberliner Humboldt-Universität im Jahr 1991 hatte der Westberliner Wissenschaftssenator Manfred Erhardt auch ihn von seinem Lehrstuhl für deutsche Geschichte vertrieben. Auf den kletterte eilends der aus dem tiefsten Westdeutschland herbeigerufene sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler. »Man muß schon mit dem Feingefühl eines Panzers ausgestattet sein, um an eine der schwierigsten Stellen der Humboldt-Universität einen Mann zu setzen, dessen Takt indirekt proportional ist der Schwierigkeit der Aufgabe, die sich ihm stellt.« So beurteilte der Münchner Althistoriker Christian Meier das Wirken des Senators und die Qualität des zwangseingesetzten Historikers, der alsbald geschichtspolitischen Krawall schlug. Und das nicht nur in der Universität, wo er jeden kollegialen Umgang mit den noch nicht abgewickelten Professoren verweigerte. Zusammen mit dem Chefhysteriker aller deutschen Talkshows, dem Auchhistoriker Arnulf (»Bürger auf die Barrikaden«) Baring bildete er ein Rollkommando namens »Unabhängige Kommission zur Umbenennung von Straßen«. Die beiden schafften die völlige Abschaffung der halben Revolution von 1918, indem sie die Rückbenennung des Karl-Marx-Platzes in Schloßplatz durchsetzten – das dazugehörige Schloß fehlt uns gerade noch, aber der ebenso unentbehrliche Wilhelminismus ist schon da: In Europa wird wieder deutsch gesprochen.
Eines aber wollte nicht sofort gelingen. Winkler, der sich nun in der gesäuberten Humboldt-Universität als der Staatshistoriker der Berliner Republik zu etablieren suchte, schaute immer wieder von dem eroberten Lehrstuhl aus dem Fenster und erschrak Tag für Tag. Eine Straße des Bolschewismus führte von seinem hart erkämpften Arbeitsplatz zum Reichstag: die Clara-Zetkin-Straße. Wütend tobte Winkler in der FAZ: Die PDS habe damit eine Runde in der Auseinandersetzung um die »kulturelle Hegemonie im Ostteil der Bundeshauptstadt« gewonnen. Versäumt wurde, so schrieb er, »ein offen ausgetragener Meinungsstreit über Demokratie und Diktatur«. Doch da siegte seine Demokratie dann schließlich doch: Clara Zetkin mußte gehen, die Kurfürstin Dorothea aber kam wieder, jene Dame, die – damit die eigene Brut regieren könne – ihren Stiefkindern mit Gift zu Leibe rückte. Die zwei Fregatten, die ihren Namen trugen, sind längst abgewrackt, ihre Straßenehre aber ist – Winkler sei es gedankt – wiederhergestellt.
Mit dieser Historikerarbeit unterschied sich Säuberungskommissar Winkler nicht von seinen Laienbrüdern, die als Geschichtsreiniger angestellt wurden. Pätzold erwähnt seinen Vertreiber in der »Clio«-Broschüre mit keinem Wort, würdigt aber den ominösen Forschungsverbund SED-Staat an der »Freien Universität«: »Die Zentrale, die das von dieser Gruppe vorzugsweise benutzte Archivgut bereitstellt, ist die Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, die zuerst von einem Pfarrer, dann von einer Katechetin geleitet wurde und an deren Spitze nun ein Journalist berufen wurde. Welche Rolle sich die Einrichtung anmaßt, wurde dadurch sinnbildlich gemacht, daß ihr jetziger Leiter im Deutschen Historischen Museum in sein Amt eingeführt wurde.«
Pätzold versäumt hier zu erwähnen, daß dieses Berliner Museum ebenso wie das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn mit Pauken und Trompeten von jenem Helmut Kohl errichtet wurde, der nach dem Zipfel von Gottes wehendem Mantel grapschend selbst – samt seinem eigenen Pullover – in die dort paßgenau angefertigte Geschichte einging.
Pätzold findet die eingangs erwähnte anmutige Potsdamer Clio »ungleich sympathischer« als die martialische in Wuppertal.
Aber kommt es darauf an, welche uns angenehmer ist? Die Wuppertaler Dame – stets bereit, sich von dem Mann mit der Pickelhaube diktieren zu lassen – sitzt mit beiden Beinen voll im Leben: die embedded Clio, Heinrich August Winklers heimliche Geliebte.
»Der Weg nach Westen« heißt Winklers dreibändiges und noch unvollendetes opus magnum, jenem Endsieg über den Bolschewismus gewidmet, zu dem er am Geschichtswissenschaftlichen Institut der – wir wollen korrekt sein – Friedrich-Wilhelm-Universität mit seinen bescheidenen Kräften beitragen durfte. Pätzold dagegen hat auf Seite 55 seines schmalen 94-Seiten-Bändchens das schon 1666 entstandene Gemälde Jan Vermeers abgebildet »Der Maler in seinem Atelier«. Dieses Kunstwerk, das sich Adolf Hitler 1940 – auf einem Höhepunkt seiner Siege – angeeignet hatte, zeigt Clio als Modell mit Lorbeerkranz und Siegestrompete. Vom Maler, der sie malt, zeigt Vermeer nur den Rücken – es könnte ein früher Winkler sein.
Doch über den steht in Pätzolds schönem und lehrreichem Büchlein kein Wort.