Wutkonjunktur
Das Internet macht es möglich: Ein paar Filmschnipsel erzeugen weltweite Wirkung. Die Medien überschlagen sich mit sensationellen Berichten und aufgeregten Kommentaren, Demonstranten greifen zur Gewalt, Botschaften werden geräumt, die Prophezeiung vom Kampf der Kulturen scheint bestätigt. Ein christlicher Fundamentalist in den USA, der Massen von muslimischen Fundamentalisten herausforderte und so ein globalpolitisches Ereignis heraufbeschwor? Ein ziemlich durchgeknallter Außenseiter, der aber große Geschichte macht? Und das alles nur, weil religiöse Gefühle ihre explosiven Eigenschaften haben, bei einem militanten, einzelgängerischen Gläubigen hier, bei Millionen von ebenso militanten Andersgläubigen dort? Alles spontan? Und nun müssen die politischen Verantwortungsträger im zivilisierten Teil der Welt sich abmühen, das Schlimmste zu verhüten, notfalls sogar mit der Entsendung von Kriegsschiffen? Die Welle der Wut hat viele Nutznießer, was den Gedanken nahelegt, daß manche von ihnen geholfen haben, sie erst einmal in Bewegung zu bringen, und nun dabei sind, ihr Rückenwind zu verschaffen. »Pro Deutschland« hierzulande und ähnlich rassistische Gruppierungen in anderen westlichen Ländern sehen die Chance, ihre Gefolgschaft auszuweiten. Haß gegen Muslime predigende Websites können ihre Klickquoten steigern. Und weniger offensichtliche politische Renditen: Militärische Zugriffe von NATO-Staaten auf muslimisch geprägte Länder haben heimischen Gewinn an Akzeptanz – die Anhänger des Propheten Mohammed, so erscheint es, sind auf Gewalt konditioniert, man kann sie nur gewaltförmig bändigen. Wo Gefahr gewähnt wird, wächst auch das Rüstungsgeschäft, und deshalb ist es nützlich, die Gefährlichkeit der Lage eindrucksvoll herauszustellen.
Die populären Medien sind dabei behilflich, sie verdienen an den Schreckensbildern. Seriöse PolitikerInnen mahnen zur Mäßigung gegenüber Muslimen. Über den Vorteil, den auch sie aus der Wutwelle ziehen, mögen sie nicht reden: Wer in Angst versetzt ist, wütende Mohammedaner würden demnächst den Okzident in Brand setzen, wird sich über die Verwüstungen, die von den Finanz-»Märkten« angerichtet werden, weniger Gedanken machen.
Zu ihrem politischen Gewinn kommen auch viele große und kleine Herrschaften auf der islamischen Seite. Empörung über Ausbeuter, die eigenen und die externen, wird abgelenkt in den Wahn von einem Krieg der Religionen, so als sei ein Kampf ums Jenseits zu führen. Die Wut auf den Islam und die Wut von Muslimen – eine Win-Win-Situation für alle diejenigen, die ihre diesseitigen Machtinteressen verschleiern wollen.
A. K.
Hillarys Sinn für Humor
Wäre nicht bekannt, wofür sie steht, hätte die mit den Tränen kämpfende kleine Frau, die am 14. September vor den Särgen von vier im ostlibyschen Bengasi getöteten US-Diplomaten verstört und verängstigt in die Kameras blickte, Mitleid erregen können. Mit stockender Stimme fragte Außenministerin Hillary Clinton, warum die Vertreter ihres Landes Opfer einer – wie sie es nannte – »Tyrannei des Mobs« geworden waren, »wo wir so viel für Libyen getan haben«. Ihr Ausdruck verriet eine bange Ahnung, daß die Welle der Empörung in der muslimischen Welt tiefere Ursachen haben könnte, als den Zorn über einen in den USA hergestellten islamfeindlichen Propagandastreifen. Das Lachen schien ihr buchstäblich im Halse stecken geblieben zu sein, obwohl sie bei anderer Gelegenheit, als es um einen abscheulichen Mord in Libyen ging, ihren ausgeprägten Sinn für makabren Humor bewiesen hatte.
Erinnert sei an die bekannte Aufnahme vom 20. Oktober letzten Jahres, als Hillary Clinton während eines Interviews für
CBS-News die Meldung vom Tod des libyschen Oberst Gaddafi erhielt. Sichtbar amüsiert kommentierte sie den bestialischen Mord feixend mit den Worten: »We came, we saw, he died« und schüttelte sich anschließend vor Lachen.
Eine Szene, die sich ebenso ins Gedächtnis vieler Menschen eingebrannt hat, wie die der heldenhaften Kämpfer der US-Befreiungsarmee, die sich gegenseitig beim genüßlichen Urinieren auf die Leichen von ihnen erlegter Afghanen gefilmt hatten. Erkennbar hatte diese Leichenschändung die Außenministerin weit weniger berührt, als der Tod der bei Protesten eines »tyrannischen Mobs« ums Leben gekommenen Vertreter ihrer Politik. Daß die Mitglieder dieses »Mobs« sich zivilisierter als die US-Soldaten verhielten und nicht auf die Leichen urinierten, hat Bengasi möglicherweise vor einem Bombardement seiner Befreier bewahrt.
Die Frage, ob Hillary Clinton aus der Perspektive des Imperiums überhaupt zu verstehen vermag, daß nicht alle Menschen in Libyen, Afghanistan und der restlichen Welt ihren Sinn für Humor teilen, darf verneint werden.
V. H.
Mörsergranaten im Morgengrauen
betitelte die
Märkische Allgemeine Zeitung vom 14. September ihren Bericht über die Verabschiedung eines brandenburgischen »Logistikbataillons« an die Afghanistan-Front. »Mörsergranaten im Morgengrauen« stammen aus dem Erlebnisfundus des Bundeswehrhauptmanns Mathias Franke, der unsere Ansprüche an Freiheit und Demokratie schon mehrmals im Ausland verteidigen durfte. Und etwas Gruselromantik, finde ich, sollte neben dem Sold schon sein.
Beeindruckt zeigte sich der Reporter der Tageszeitung auch von einem Wandspruch im Dienstzimmer des Offiziers: »Only a few guys can handle Afghanistan«, und er lieferte dazu gleich die passende, freie Übersetzung: »Nicht alle Kerle sind für Afghanistan geschaffen!« Wie wahr! Der Mensch wird normalerweise auch nicht als Afghanistan-Kämpfer geboren, sondern als Bettnässer! Ob und wann er trocken zwischen den Beinen und hinter den Ohren wird, hängt von ihm selber und ein wenig vielleicht auch von den Umständen ab.
Der brandenburgische Innenminister Dietmar Woidke zollte den harten Burschen bei der Verabschiedung jedenfalls seinen Respekt und wünschte ihnen, »gesund an Körper und Seele« zurückzukehren. Dieser Hoffnung können wir uns nur anschließen. Hinsichtlich der Seele, nennen wir sie mal der Verständlichkeit halber Psyche, ist das allerdings eine kompliziertere Sache. Da weiß man, daß schon manch ein Verteidiger einen schwer reparablen Knacks davongetragen hat.
Diese Gefahr besteht bei Hauptmann Franke wohl eher nicht, denn Berufssoldat, bekennt er, war schon immer »genau das, was ich wollte. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben!« Na also, das ist doch wunderbar.
Obwohl er seinen Kindern Weihnachten wiederum nicht den Rauschebart wird geben können, freut er sich auf die Heilige Zeit in der Ferne. »Wir werden das Lager sicherlich weihnachtlich schmücken«, frohlockt er. »Wir sind ja schließlich immer noch Menschen!« Treffend bemerkt!
Wir wünschen ihm und den anderen guys, daß es noch lange dabei bleibt!
Wolfgang Helfritsch
Ein Lebenskünstler
Kann man sich den »Weg in eine waffenfreie Welt« wünschen und sich zugleich im Waffenhandel engagieren? Man kann, Burkhart Braunbehrens jedenfalls kann es. Die geplante Lieferung von Panzern an die Saudis hat er öffentlich kritisiert, aber er selbst ist Miteigentümer der Rüstungsfirma Krauss-Maffei-Wegmann, die diese Leoparden produziert. Die Künstlergruppe »Zentrum für politische Schönheit« hat deshalb ihm, der ebenfalls künstlerisch tätig ist, Doppelmoral vorgeworfen (s.
Ossietzky 15/16-12). Zu Unrecht, beklagt sich Braunbehrens, und erklärt im evangelischen Magazin
Chrismon, daß zwar bessere Richtlinien der Politik für den Rüstungsexport notwendig seien, die Bundesrepublik und die ganze Welt aber nicht ohne deutsche Waffenproduktion und deren Außenhandel auskommen könnten. Wer Frieden anbahnen wolle, müsse militärisch und rüstungstechnologisch »mitmischen«: »Es geht wirklich nicht ohne Waffen.« Auch nicht ohne internationale Einsätze der Bundeswehr, denn die habe »eine bessere Kultur als die US-Armee«. Und die deutschen Waffenfabriken seien auf Export angewiesen, allein durch inländische Nachfrage lasse sich der rüstungsindustrielle »Standort« mit seinem »technischen Standard« nicht halten. Man überlebe in dieser Branche nur als »Weltmarktführer«. Man sieht: Hier waltet nicht doppelte, sondern einfache Moral: Die waffenfreie Welt ist noch fern, gegenwärtig sind Waffen unverzichtbar, und ohne Krauss-Maffei-Wegmann läuft da nichts.
In dem Unternehmen, an dem er beteiligt ist, hat man Braunbehrens dennoch Ärger spüren lassen. Warum muß er denn auch an einem lukrativen Kunden herummäkeln? Aber diesen Verdruß kann der Künstler aushalten, die Mitgesellschafter können ihn nicht enteignen. In einem Interview, das der
WDR mit ihm führte, kam die Rede auf Braunbehrens’ linksradikale Vergangenheit, er war Autor einer studentenbewegten »Volkszeitung«, die sich kommunistisch nannte. Den Aktienanteil an der Rüstungsfirma hatte er da noch nicht geerbt. Und nun Waffenhändler? »In dieser Sache waren wir Kommunisten immer sehr realistisch«, sagt Braunbehrens.
Karl Liebknecht beispielsweise, so muß man folgern, gehörte offenbar nicht zur Schulungslektüre im Heidelberger Revoluzzerseminar.
Marja Winken
Die NATO expandiert
Georgien sei als Vollmitglied der NATO vorgesehen, versicherte deren Generalsekretär der
Frankfurter Allgemeinen. Es stünden dort demnächst Wahlen an, die man noch abwarten wolle; sie seien »ein Lackmustest für eine demokratische Reife«. Die Aussichten dafür, daß NATO-konforme Politiker gewählt werden, sind gut; westliche Finanzierungen und die Anwesenheit US-amerikanischer Militärs im Lande werden sich gewiß rentieren. Die »strategische Partnerschaft« zwischen der NATO und Georgien dient dem westlichen Interesse, Rußland kleinzuhalten, und sie hat einen langen Vorlauf. Schon vor dem Ersten Weltkrieg und dann noch einmal in den Jahren nach 1917 waren Großbritannien und Frankreich darauf aus, in der Kaukasusregion politische Satelliten zu gewinnen, mit dem Einsatz von Truppen. Es ging dabei um geopolitische Expansion, um militärische Stützpunkte für das Projekt, Rußland zu zerlegen. Und auch um die Herrschaft über Transportwege für Öl, Georgien war begehrt als »Landbrücke« zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. Damals kreuzten sich diese Absichten mit türkischen und deutschen Interessen an einem Zugriff auf die Region. Inzwischen geben in diesem Teil des »Großen Spiels« die USA den Ton an, mit Hilfe der NATO. Noch immer ist das Ziel, über militärische Stützpunkte am Rande Rußlands zu verfügen und den Transfer von Energie zu kontrollieren. So hat Weltgeschichte ihre Kontinuitäten.
A. K.
Wahleifer
Da habe ich eine Chance vertan: Hätte ich mich vor einigen Tagen bei den Grünen als Mitglied angemeldet, wäre ich beteiligt an einer für die Bundesrepublik ganz neuen Form von Demokratie, der innerparteilichen Urwahl von Spitzenkandidaten. So viel politische Partizipation – fast schon wie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Und diese Einsatzbereitschaft unter Basisgrünen – elf von ihnen haben sich als Kandidaturkandidaten zur Verfügung gestellt, obwohl sie doch wissen, daß die Wahl auf zwei der vier BewerberInnen fallen wird, die der Parteivorstand ins Licht gerückt hat. Nun habe ich keine Gelegenheit, mich zwischen den drei potentiellen grünen Spitzenfrauen zu entscheiden. Zu dem Spitzenmann hätte ich mir keine Gedanken machen müssen, da ist ja nur einer im Vorstandsangebot.
Dennoch, an parteilicher Willensbildung kann ich partizipieren – bei der SPD. Ohne Mitgliedschaft in dieser Partei sogar. Die Sozialdemokraten haben jetzt über eine Million Postkarten verteilt. Auf denen kann jede Bürgerin und jeder Bürger dem Parteivorstand mitteilen, was in das sozialdemokratische Wahlprogramm hineingeschrieben werden soll. Selbstverständlich kann nicht jeder Wunsch berücksichtigt werden, das kann man verstehen. Aber wer sucht aus, welche Postkarten zum Zuge kommen? Da wird Steinbrück sich mit Steinmeier und Gabriel einigen müssen.
Warum nur denken sich die Christdemokraten nicht auch so etwas schön Partizipatives aus? Sicher, sie stehen demoskopisch viel besser da als die Sozialdemokraten oder die Grünen. Und eine Spitzenkandidatin haben sie schon, sie wird dafür sorgen, daß im Wahlprogramm nur Nettes steht. Aber auch die CDU/CSU könnte sich doch einen kleinen Werbeeffekt zusätzlich verschaffen, indem sie mittut bei der Aufführung des Stückes »Parteien – ganz bürgernah«.
M. W.
Wahlaballa
In den USA wollen zwei Männer Präsident werden. Um zu zeigen, wie geeignet sie für dieses Amt sind, treten ihre Ehefrauen, vom Fernsehen in alle Welt übertragen, vor großem Publikum auf, und jede schildert herzig, was für ein wunderbarer Mensch ihr Angetrauter ist. Sogar Liebeserklärungen werden abgegeben. Es gibt Küßchen. Mit Hilfe von Kindern und Enkeln wird dargetan, welche Qualitäten den Bewerber auszeichnen. Man gewinnt den Eindruck, daß die Amerikaner ihren Präsidenten nach Kriterien wählen sollen, nach denen ein Tierliebhaber sich seinen Hund aussucht.
Günter Krone
Digital und analog
Freibeuter halten sich nicht an die herrschenden Regeln, das macht in den Geschichten, die von ihnen erzählt werden, ihren Charme aus. Einer neu auftretenden Partei den Namen »Piraten« zu geben war deshalb in Zeiten des weitverbreiteten Verdrusses über das etablierte Parteiensystem ein attraktiver Einfall. Die Wahl der »Piraten« drückt den Wunsch aus, eine unkonventionelle Form der Teilnahme an politischer Willensbildung auszuprobieren – oder wenigstens den Ärger über die parteipolitischen Konventionen kundzutun. »Klarmachen zum Ändern« – ein Slogan, der Kritik und Zuversicht ausdrückt, freilich offen läßt, was denn da – in jedem Fall gestützt auf die Netzkultur – verändert werden soll. Unstrittig ist bei den »Piraten«, daß sie entern wollen, Sitze in den Parlamenten nämlich, demnächst auch im Deutschen Bundestag. Dafür gibt es Regeln, wahl- und parteienrechtliche, und so sind die »Piraten« schon bald vom Digitalen ins Analoge geraten, was ihnen zu schaffen macht. Der anfängliche Glanz ist eingetrübt, die Umfragewerte stagnieren oder verschlechtern sich. Insofern ist der Untertitel eines lesenswerten politikwissenschaftlichen Sammelbandes über die »Piraten«-Partei, »Erkundungen in einer neuen politischen Arena«, wohl überzogen; zutreffender wäre: »Zwischenberichte über einen neuen Akteur in einer schon bekannten politischen Arena«.
Anregende Überlegungen enthält diese erste Bestandsaufnahme vor allem zu Themen der Netzpolitik: Wie läßt sich in den digitalen Medien freie Kommunikation mit Zugang für alle Bürgerinnen und Bürger entwickeln und schützen gegenüber dem Macht- und Profitinteresse von »Eliten«? Völlig zu Recht macht Claus Leggewie, einer der Herausgeber des Bandes, darauf aufmerksam, daß die verheißungsvolle neue Welt der Netzkommunikation eben auch den politischen und wirtschaftlichen Oligopolisten bisher ungeahnte Möglichkeiten bietet, Meinungen zu »formatieren«, Transparenz und Partizipation vorzutäuschen, in eine »Gefällt mir«-Falle zu locken.
Die »Piraten«-Partei, empfehlen ihr derzeit gern Vertreter der Altparteien und der führenden Medien, müsse nun lernen, »Verantwortung zu übernehmen«. Wofür? In welchem System der Verteilung und Zuweisung von Herrschaft? Wie sehen die Regeln aus, die zu akzeptieren sind, wenn eine Partei als »verantwortungsfähig« anerkannt werden will? Für Freibeuter könnten das interessante Fragen sein.
A. K.
Christoph Bieber/Claus Leggewie (Hg.): »Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena«, transcript Verlag, 248 Seiten, 19,80 €
Sprach- und Ideologiekritik
Eine abgerundete Darstellung der Person und des Werkes von Karl Kraus ist nicht der Sinn dieses Buches. Vielmehr befaßt es sich intensiv mit einigen ausgewählten Fragen, die für eine Gesamtinterpretation der literarischen Hinterlassenschaft des großen Österreichers wesentlich sind. In der Einleitung zitiert Wolfgang Beutin Kraus’ Credo »... meine Verteidigung der Menschheit, die Parteinahme für Natur und Geist gegen die Zerstörermächte unbeherrschter Technik und mißratener Intelligenz ...« Das ist offenbar auch das Credo von Beutin, der sich seit Jahrzehnten mit Kraus beschäftigt hat. Der Hamburger Schriftsteller und Literaturwissenschaftler setzt sich mit Vorwürfen auseinander, der Herausgeber der
Fackel, die sich einmal als »Anwalt der Natur« bezeichnete, sei ein »politischer Reaktionär und Antimodernist« gewesen. In dem Kapitel »Ein Diener am Wort. Sprache und Stil, Theorie und Praxis« macht Beutin uns mit Kraus’ »immerwährendem Denken über Sprache« bekannt. Er analysiert Aussagen zur Sprachtheorie, Sprache in rhetorischer und poetischer Verwendung, Sprach- und Stilkritik in ihrer Wirkung. Überzeugend belegt er, daß Sprach- und Stilkritik bei Kraus Vorarbeiten für Denkstil- und Inhaltskritik sind, die den Weg für die Ideologiekritik bereiten. In Kapiteln wie »Das Weib als Hexe. – Tendenzen der Frauendarstellung in der Presse« zeigt er Kraus als vielseitigen Aufklärer. Unter dem Motto »Weh einem Volke, das vom Wahn geführt!« behandelt er den Dramatiker Kraus, der neben seinem Hauptwerk »Die letzten Tage der Menschheit« kleinere Theaterstücke geschrieben und Stücke anderer Autoren bearbeitet hat. Der letzte Teil berichtet kenntnisreich über die Literaturfehde zwischen Karl Kraus und Alfred Kerr und über die schwierige Beziehung zu Kurt Hiller.
So beleuchtet Beutin Kraus’ Werk unter vielen Aspekten, die in bisherigen Darstellungen kaum Beachtung fanden. Und so hilft er, Kraus’ Bedeutung für unsere Zeit besser zu erkennen.
Manfred Uesseler
Wolfgang Beutin: »Karl Kraus oder Die Verteidigung der Menschheit«, Peter Lang Verlag, 269 Seiten, 44,80 €
DEFA-Geschichte
In den Dokumentarfilmstudios der DDR in Berlin, Potsdam-Babelsberg oder Kleinmachnow gab es angestellte Regisseure, die in Arbeitsgruppen tätig waren. Sie hatten unterschiedliche künstlerische Ambitionen und Ausrichtungen, führten eigene Ideen oder gesellschaftliche Aufträge aus. In der Regel hatten sie viel Zeit, um ihre Filme vorzubereiten. Dabei bestand aber auch die Gefahr, daß ihre Filme am Ende nicht gezeigt werden durften, da sich einmal wieder die Kulturpolitik der SED gewandelt hatte. Das war das Spannungsfeld, in dem die Dokumentarfilmer der DEFA agierten. In einem jüngst erschienenen Buch geben 21 von ihnen darüber Auskunft: Kurt Maetzig, Karl Gass (in seinen späten Jahren ein hochgeschätzter
Ossietzky-Autor), Walter Heynowski, Richard Ritterbusch, Jürgen Böttcher, Kurt Tetzlaff, Peter Voigt, Richard Cohn-Vossen, Winfried Junge, Barbara Junge, Günther Lippmann, Gitta Nickel, Ulrich Kling, Konrad Weiß, Peter Rocha, Volker Koepp, Lew Hohmann, Joachim Tschirner, Roland Steiner, Andreas Voigt und Dieter Schumann. Was sie unter den damaligen Bedingungen zustande brachten, ist ein Stück Film- und damit auch Kulturgeschichte, das im Westen der Republik, von Ausnahmen abgesehen, wenig bekannt ist.
Kurt Maetzig (s.
Ossietzky 18/12), Mitbegründer der Deutschen Film AG – DEFA und Gründungsrektor der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg, die die DDR als Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf überlebte, schildert beeindruckend die Anfänge dieser Arbeit und die historischen Hintergründe. Roland Steiner erzählt von den Jahren, in denen er bei Punks und Skins für den Dokumentarfilm »Unsere Kinder« recherchierte. Winfried Junge und seine Frau Barbara berichten von der Arbeit an »Kinder von Golzow«, einem der größten Dokumentarfilmprojekte, für die je ein Staat die Mittel gab. An die besonderen Schwierigkeiten bei Filmen über Umweltthemen erinnert Joachim Tschirner.
Der ehemalige Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf, Lothar Bisky, schreibt im Vorwort: »Dokumentarfilme sind als Zeugnisse vergangener Handlungen möglicherweise gut nutzbar für Debatten über Menschen mit ihren Geschichten und Geschichtchen. Mir bleibt rätselhaft, warum sie nicht häufiger in Geschichtsdebatten genutzt werden. [...] Medientechnologische Fortschritte erlauben eine zunehmend weniger (an Ort und Zeit) gebundene Reproduktion audiovisueller Werke. So wäre es nur logisch, wenn DEFA-Dokumentarfilme häufiger bei Debatten über verschiedene Seiten des Lebens in der DDR genutzt werden würden. Allerdings setzte das ja voraus, daß sie nachgefragt werden.«
Dank der Offenheit der befragten Dokumentarfilmer ist den Autorinnen in Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum Potsdam, der DEFA-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum 20. Jahrestag der Schließung des DEFA-Studios für Dokumentarfilme (1946–1992) ein Werk gelungen, das schon jetzt als Standardwerk gelten kann.
Karl-H. Walloch
Ingrid Poss/Anne Richter/Christiane Mückenberger (Hg.): »Das Prinzip Neugier. DEFA-Dokumentarfilmer erzählen«, Verlag Neues Leben, 656 Seiten, 29,95 €
Wuttkes eingebildeter Kranker
Es ließ sich gut an. Gauklerisch grandios geradezu – dieser Martin Wuttke! Er jammert und heult, taumelt krank und gebrechlich in die Arme seines Hausmädchens, das Mühe hat, ihm die Unterhosen die Beine hochzuzerren und, kaum ist er halbwegs angekleidet, wankt er quer über die Bühne, mal in die eine, mal in die andere Ecke, fuchtelt wild mit den Armen, weil ihm der Arzt Bewegung verordnet hat. Was er dabei schrill von sich gibt, sind unverständliche französische Brocken, eine Kaskade von schier endlosem Kauderwelsch: Wuttke legt eine Clownsnummer hin. Ob die den Intentionen Molières entspricht? Immerhin schmunzelt man, ohne sich jedoch totzulachen, wie es der Spruch auf dem Bühnenvorhang fordert. Die acht Mimen, die sich das Stückpersonal teilen (urkomisch Brigitte Cuvelier und Lilith Stangenberg und urkomisch auch das im Programm nicht kenntlich gemachte Teufelchen mit Maske), beschwören zusammen Erinnerungen an die Commedia dell’ arte herauf, die in den fünfziger Jahren im Berliner Ensemble zu erleben war – die Volkstümlichkeit von Straßenkomödianten! Da wird dann auch mal aus einem Nachttopf Suppe geschöpft, und zwei auf den Plan gerufene Ärzte werden Molières magenkrankem Argon so viele Einläufe verpassen, daß ihm aus allen Körperöffnungen Fontänen sprühen.
Spätestens hier muß der fette Hendrik Arnst, der eine Art Marktschreier zu mimen hat, erneut mit dem Stock auf den Boden schlagen und den Zuschauern lauthals den Originaltitel der Komödie verkünden ... Das wäre kaum nötig gewesen, hätte man rundum auf das an der Berliner Volksbühne so beliebte Hilfsmittel Video verzichtet. Lichtspiele verwirren, reißen die Zuschauer aus dem Stück, und schwer zu akzeptieren ist, daß auf der Leinwand plötzlich ein Double für Wuttke und nicht er selbst den Argon verkörpert, der sich tot stellt, um Tochter und Eheweib ins Herz zu schauen. Man ist erleichtert, wenn endlich die Leinwand verschwindet und die Schauspieler wieder bis hin zum Schlußapplaus leibhaftig auf der Bühne agieren.
Walter Kaufmann
Verwechslung unter Brüdern
Volker Kauder, seit 2005 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Fähnrich der Reserve, ist in
Ossietzky 19/12 einer Verwechslung mit seinem jüngeren Bruder Siegfried zum Opfer gefallen, der diese beiden Funktionen nicht, dafür aber seit 2009 den Vorsitz des Bundestagsrechtsausschusses innehat. Sämtliche, in dem Artikel »Von Schurkenstaaten und Demokratien« aus einem
Spiegel-Online-Kommentar zitierten Äußerungen stammen nicht von Volker, sondern von Siegfried Kauder. Der Autor bittet die LeserInnen und die Brüder Kauder, die Verwechslung zu entschuldigen.
V. H.
Press-Kohl
Nach der Aufführung eines modernen japanischen Konzerts referierte ein moderner deutscher Konzert-Analytiker: »Keiner kickert kecker, klagt intensiver und koloriert farbensinnlicher auf seinem Instrument als die Klarinetten-Königin Sabine Meyer«, was mich zu einem intensiv keckernden Kichern verführte. Frau Meyers Begleitorchester »wirkte indes wie ausgedünnt und blutleer«. Der Kapellmeister hätte eine Runde Sake (laut Lexikon »sherryartiges japanisches Nationalgetränk aus geschältem, gemaischtem, verzuckertem und vergorenem Reis, das warm getrunken wird«) spendieren sollen.
»Einem der Pioniere der Deutschen Spirituosenindustrie, Herrn Sergei Apollonowitsch Schilkin«, hätte das Dirigat eines Sinfonieorchesters wohl kaum Schwierigkeiten gemacht. Herr Schilkin wußte genau, daß Musiker nicht nur ihre Instrumente pflegen müssen, sondern auch ihre empfindlichen Kehlen. Leider ist Sergei Schilkin schon am 18.2.2007, in seinem 92. Lebensjahr, »für immer von uns gegangen«.
Nachdem unserem Musiksport-Reporter die Kapelle wie ausgedünnt und blutleer geschmeckt hatte, passierte ihm und dem Orchester noch etwas Wunderbares: »Mit mehr Saft und Kraft pumpte Ashkenazy Schönbergs sinfonische Dichtung ›Pelleas und Melisande‹ zu einem betörenden Klanggebilde zwischen Liebesseligkeit und Schicksalsträumen auf.« Und womit tat er das?
Vermutlich mit einer Saftpumpe.
Hier noch eine leckere Kostprobe aus dem stilistischen Brotbeutel unseres Musikkritikers: »Glut schleudern Bruna Baglioni und Justino Diaz in den Raum.« Gibt’s da keinen Feuermelder? »Sonor singt Nicola Ghiuselev den Oberpriester.« Sonor = klangvoll. Solange die Sänger keine Gluten schleudern, singen sie also klangvoll. »Die Aida war bei Leona Michel und ihrem gluttural vibrierenden Sopran bestens aufgehoben.« Ob sich eine Sopranistin durch ihr Vibrato schätzenswert macht, sei dahingestellt. Wie aber erzeugt sie das glutturale Vibrato?
Durch Verspeisen großer Mengen Gluttamat?
Achtung: Doping!
Felix Mantel