Ende August 2013 passierte im britischen Parlament, im Unterhaus, etwas Unerhörtes. Die Abgeordneten verweigerten dem Premierminister die Unterstützung – das letzte Mal, daß so etwas passierte, ist immerhin mehr als ein halbes Jahrhundert her (1956 während der Suez-Krise). Konkret verweigerten sie die Unterstützung für einen Militäreinsatz in Syrien unter Führung der USA, mit der die britischen Regierungen eigentlich eine »special relationship«, sprich eine Art Nibelungentreue verbindet. Die »Bild«-Zeitung des Landes, The Sun, rückte denn auch umgehend eine Todesanzeige auf die Titelseite. Verkündet wurde nichts Geringeres als der Tod der »special relationship«: »Zu Hause gestorben, nach kurzer schwerer Krankheit am Donnerstag, den 29. August, im Alter von 67 Jahren«. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte allerdings nicht gegen die »special relationship«, sondern gegen einen Kriegseinsatz. Sie handelten damit durchaus im Sinne der von der Wirtschaftskrise und vom strengen Sparkurs der Regierung unter David Cameron gebeutelten Bevölkerung des Vereinigten Königreichs, die kostspielig-sinnlose Militäreinsätze in fernen Regionen der Welt – noch dazu außerhalb des Völkerrechts – mehrheitlich einfach leid ist. Laut einer Umfrage des Instituts YouGov befürwortet lediglich ein Fünftel der Briten eine Militäraktion. Die Erinnerung an den vor zehn Jahren ohne Zustimmung der UNO initiierten Irakkrieg, für dessen betrügerische Rechtfertigung George W. Bush und nicht zuletzt der damalige britische Premier Tony Blair die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen anführten, die es – wie sie sehr wohl wußten – nicht gab, ist in Großbritannien sogar bei den der Armee gewogenen konservativen »Hinterbänklern« lebendig. Die kriegerischen Vorgänge in Syrien, auch das war vielen Abgeordneten mehr als bewußt, lassen sich durch simple Freund-Feind-Zuordnungen und ausschließlich der Rüstungsindustrie Nutzen und Profite bescherende Luftschläge nicht aus der Welt schaffen.
Großbritannien hat nun einen Parlamentsbeschluß, der schon deshalb Aufsehen erregte, weil er zum einen die Führungsqualitäten von Premier Cameron nachdrücklich in Frage gestellt hat und zum anderen die Regierungen der USA und auch Frankreichs indirekt zu relativen diplomatischen Kehrtwenden veranlaßte. Es ist – wohlgemerkt – ein Beschluß, der keine ewige Gültigkeitsdauer hat. Sollte die Regierung aufgrund welcher »Erkenntnisse« auch immer zu der Auffassung gelangen, sich an einem Militäreinsatz gegen das syrische Regime beteiligen zu müssen, wird das Unterhaus im Zweifelsfall erneut abstimmen. Ob dann erneut 13 Stimmen für eine Zustimmung fehlen, ist alles andere als vorhersagbar. Im übrigen kann der Premier Militäreinsätze ohne Rücksichtnahme auf Parlamentsbeschlüsse anordnen.
Aufsehen erregte der Parlamentsbeschluß aber in noch viel grundsätzlicherer Hinsicht. Deutlich wurde das in der Reaktion des Finanzministers und Cameron-Vertrauten George Osborne. Er befand: »Für uns hat nun eine Phase der nationalen Gewissenserforschung begonnen: Wir müssen uns klar werden, welche Rolle wir in der Welt künftig spielen wollen.« In der Tat. Anders als noch während der Falklandgefechte hat die Kriegsteilnahme an den »Missionen« im Irak und in Afghanistan in der britischen Bevölkerung wachsende Zweifel an den damit verbundenen »imperialen Ansprüchen« (so der Tory-Abgeordnete Chris Blunt) ausgelöst. Die Einsicht, daß Humanität und Demokratie nicht mit Waffengängen in aller Welt herbeigebombt werden können, wächst schon aufgrund der vielen traumatisierten Kriegsheimkehrer und der zahlreichen Kriegstoten stetig. Übrigens auch in der liberal-konservativen Regierung – von ihren harten Sparmaßnahmen wurden neben der breiten Bevölkerung auch die Streitkräfte nicht verschont. Bei Licht betrachtet sind sie für zukünftige Waffengänge im Schlepptau der USA längst nicht mehr hinlänglich ausgerüstet. Kurz, das seit den fernen Tagen der britischen Weltherrschaft gepflegte Selbstverständnis, eine in der Welt tonangebende Nation zu sein, ist spätestens in diesem nach wie vor von der Finanz- und Wirtschaftskrise beherrschten Jahr 2013 zum historischen Auslaufmodell geworden.
Während der Vorsitzende der oppositionellen sozialdemokratischen Labour Party, Ed Miliband, die parlamentarische Ablehnung eines Angriffs auf Syrien pries – »das Unterhaus hat für das britische Volk gesprochen, das nicht in den Krieg rennen will« –, geriet er plötzlich selbst schwer unter Beschuß. Und zwar nicht etwa durch kriegslüsterne Torys, die von der Abstimmungsniederlage auf dem falschen Fuß erwischt worden waren, sondern durch Gewerkschafter. Und nun wird es mindestens so ernst wie bei der – bislang auch von der Labour Party nicht konkret beantworteten – Frage, ob weltpolizeiliche Waffengänge fern des Vereinigten Königreichs der Vergangenheit angehören sollen. Der Reihe nach: Die Labour Party wurde im Jahr 1900 gegründet – und zwar ausdrücklich als politischer Arm der Gewerkschaftsbewegung. Seitdem sind die Mitglieder der sechzehn Gewerkschaften, die gegenwärtig der Labour Party angeschlossen sind, automatisch auch Mitglieder der Labour Party, wobei die Gewerkschaftsfunktionäre ihre Stimmen bei Parteiabstimmungen geschlossen für sie abgeben und so auf die Kandidatenauswahl für Parteiämter Einfluß nehmen. Rund drei Millionen Gewerkschaftsmitglieder sind somit automatisch Parteimitglieder, die dafür einen persönlichen Beitrag von drei Pfund zahlen. Es sei denn, sie erklären ausdrücklich das »opt out«. Zu den großen Gewerkschaften zählen die UNITE mit rund 1,5 Millionen Mitgliedern, die UNISON mit rund 1,3 Millionen, die GMB mit 620.000, die USDAW mit 420.000 und die CWU mit 200.000 Mitgliedern.
Labour-Chef Miliband setzt sich nun seit dem Sommer nachdrücklich dafür ein, all die Arbeitnehmer, die bislang diese politischen Abgaben der Gewerkschaften an Labour zahlen, künftig separat und individuell als Parteimitglieder aufzunehmen. Pläne zur Umsetzung sollen von dem ehemaligen Generalsekretär der Labour Party, Ray Collins, noch in dieser Legislaturperiode entworfen und im Frühjahr 2014 auf einer Sonderkonferenz debattiert werden. Es geht Miliband vor allem darum, Labour »vom schädlichen Einfluß der Gewerkschaften« zu befreien und nicht zuletzt darum, mehr Spendengelder aus der Wirtschaft anzuziehen beziehungsweise dem Großkapital – nach Blair sozusagen endgültig – zu beweisen, daß Labour weit genug rechts steht, um mit Regierungsgewalt betraut werden zu können. Außerdem plädiert er für eine staatliche Parteienfinanzierung, die Großbritannien nicht hat – sollte Labour wieder an die Macht kommen, will er sie möglichst umgehend einführen.
Anfang September reagierte die Gewerkschaft GMB öffentlich wahrnehmbar ungehalten auf Ed Milibands Pläne. Ihr Generalsekretär Paul Kenny drohte jedenfalls an, der Labour Party Gelder von mehr als einer Million Pfund kurzerhand zu streichen und überhaupt die Parteifinanzierung auf den Prüfstand zu stellen. Einigen Labour-Abgeordneten schwante daraufhin nichts Gutes. So bezeichnete Ian Lavery die von Miliband geplante Reform als »größtes politisches Lottospiel« in der Parteigeschichte und fügte hinzu, er glaube nicht, daß mehr als kümmerliche 15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder einen Antrag auf die Labour-Parteimitgliedschaft stellen würden. Das aber würde auf einen Kollaps der Parteifinanzierung hinauslaufen.
Nun ist die (Verhandlungs-)Lage bislang unübersichtlich. Wenn sich die beiden größten Gewerkschaften UNITE und UNISON, die sich derzeit noch zurückhalten, auch auf eine Reduktion ihrer Überweisungen an Labour verständigen, könnten Labour mehr als zehn Millionen Pfund in den Kassen fehlen. Aber gemach. Die Anzeichen sprechen eher dafür, daß sich die Gewerkschaftsführer – auch gegen den Widerstand vieler ihrer Mitglieder – mit dem neuen und zumal kapitalfreundlichen Kurs der nur noch dem Namen nach als »Arbeiterpartei« operierenden Labour Party arrangieren werden. Den Scharen von Mitgliedern, die den Gewerkschaften in den vergangenen drei Jahrzehnten den Rücken gekehrt haben, werden im Zweifel weitere folgen.