In den 1950er und 1960er Jahren ließ sich die Justizpraxis von Befürwortern rechtsstaatlicher Prinzipien wie dem Braunschweiger und später hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer nicht beeindrucken. Die alten Kameraden, die bis in die Senate des Bundesgerichtshofes hinein die Mehrheit in den Gerichten hatten, beeilten sich, ihre, wie sie es nannten, Pflicht am Recht zu tun. Strafrechtliche Ermittlungsverfahren zur Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts führten sehr selten zu einer Anklage. Außer Hitler und den toten Mitgliedern des NS-Führungszirkels gab es praktisch keine Täter, allenfalls Helfer, die ohne jeden vorwerfbaren subjektiven Vorsatz gehandelt hatten. Euthanasie-Mediziner, Führungsoffiziere der Einsatzgruppen, höhere SS-Führer, Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes und der Gestapo, Verwaltungschefs und Wehrmachtsjuristen – nach den mehrheitlichen Vorstellungen der bundesdeutschen Justiz in den fünfziger und sechziger Jahren hatten diese Personen kein oder allenfalls geringstes Unrecht begangen und mußten nicht verfolgt werden. Besonders erfolgreich war die Nichtverurteilungsbereitschaft der bundesdeutschen Justiz im Umgang mit den Berufskollegen. Kein Richter wurde wegen eines von ihm in der Nazi-Zeit gefällten Todesurteils bestraft, kein einziger wurde zur Rechenschaft gezogen. Hans Filbinger, der als NS-Marinerichter Todesurteile aussprach und der selbst einmal das Hinrichtungskommando beaufsichtigte, brachte es bis zum Ministerpräsidenten des Bundeslandes Baden-Württemberg. Erst 1978 führte sein berühmter Satz »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein« zu seinem Rücktritt, also mehr als 30 Jahre nach den von ihm verkündeten Todesurteilen und beaufsichtigten Hinrichtungen. Die bundesdeutsche Justiz brauchte 50 Jahre, um 1995 Unrechtsurteile der Nazi-Justiz wenigstens formal aufzuheben.
Die personellen und ideologischen Kontinuitäten aus der Nazizeit waren konstitutiv für das Justizwesen in der Bundesrepublik Deutschland – mit Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit. An ihnen entzündeten sich aber auch Proteste, vor allem studentische Gegenbewegungen, Forderungen nach Überwindung verknöcherter Moralvorstellungen, Absagen an Autoritäten. Auch der Gang einzelner in den militanten, gewaltbereiten Untergrund legitimierte sich mit eben jener Kontinuität in den bundesdeutschen Strukturen auch und gerade im Bereich der Justiz.
Wie nah das alles beieinanderliegt, zeigt folgende Episode: In dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen Verena Becker wegen Beihilfe zum Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback appellierte der Vorsitzende Richter mehrmals an die ehemaligen Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF), sie sollten, obwohl nach Paragraph 55 der Strafprozeßordnung zum Schweigen berechtigt, um der »historischen Wahrheit willen« aussagen – als wäre der Prozeß vor einer Staatsschutzkammer am Oberlandesgericht ein Diskurs im geschichtswissenschaftlichen Seminar. Die Zeugen und Mitbeschuldigten aus der RAF schwiegen, auch der für März 2011 vorgeladene Zeuge Stefan Wisniewski. Er trug jedoch einen Pullover mit dem Aufdruck »Verfolgt die Spur 8179469«. Es war die NSDAP-Mitgliedsnummer von Siegfried Buback.
Buback war weder das erste noch das letzte ehemalige Mitglied der Nazi-Partei auf dem Posten des Generalbundesanwalts. Begonnen hatte es 1950 mit Carl Wichmann, der von 1933 bis 1945 als Senatspräsident des Kammergerichts Berlin NS-»Recht« gesprochen hatte. Zweiter Generalbundesanwalt war von 1956 bis 1961 Max Güde, ehemals NSDAP-Mitglied. Der dritte, der 1962 nur kurz amtierte, war Wolfgang Fränkel, NSDAP-Mitglied ab 1933, als Mitarbeiter der Reichsanwaltschaft an Todesurteilen beteiligt; er hatte beispielsweise für den Diebstahl eines Mantels erfolgreich beim Reichsgericht die Todesstrafe beantragt. Der vierte war von 1963 bis 1974 Ludwig Martin, ebenfalls ehemaliger Mitarbeiter der Reichsanwaltschaft. Als Richter am Bundesgerichtshof hatte er dann in Verfahren gegen NS-Kriegsverbrecher für Freisprüche gesorgt. Er blieb immer ein Anhänger der Todesstrafe. Der fünfte war der schon erwähnte Siegfried Buback, der von 1974 bis 1977 amtierte. Ihm folgte von 1977 bis 1990 Kurt Rebmann als sechster Generalbundesanwalt. Auch er hatte der NSDAP angehört. In rechtspolitischen Diskussionen trat er immer wieder mit Forderungen nach einem schärferen Strafrecht hervor. Er verlangte ein härteres Vorgehen gegen Demonstranten an der Baustelle der Aufbereitungsanlage für gebrauchte, hochradioaktive Brennelemente in Wackersdorf oder am Baugelände der Startbahn West bei Frankfurt am Main. Entgegen dem Recht und Gesetz, an das er als Beamter gebunden war, forderte er die Wiedereinführung der Todesstrafe durch nachträgliches Urteil und die Erschießung inhaftierter Gefangener aus der RAF, die freigepreßt werden sollten. Ohne gesetzliche Grundlage ordnete er die totale Kontaktsperre an; das Gesetz wurde dann nachgereicht. Zum Abschied aus dem Dienst erhielt Rebmann das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband.
Die Serie »Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat?« des Hamburger Strafverteidigers Martin Lemke begann in Ossietzky 19/13 und wird fortgesetzt.