Carl von Ossietzkys Geburtsjahr, 1889, scheint uns weit entfernt. Doch Bertha von Suttners Roman »Die Waffen nieder!«, der im selben Jahr erschien, rückt es in unsere Nähe. Suttners Forderung ist beklemmend aktuell angesichts von 1738 Milliarden Dollar Militärausgaben pro Jahr weltweit (2013, laut Sipri). Hat sich nach dem blutigen 20. Jahrhundert tatsächlich nichts Grundsätzliches verändert an der Menschheitsfrage Krieg oder Frieden, bleibt die Rüstungsindustrie der wichtigste Wirtschaftsfaktor?
Das bestätigt schon Ossietzkys Erkenntnis nach dem Ersten Weltkrieg: »Nichts, was zum Krieg geführt hat, ist durch den Krieg wirklich abgetan«, die uns seit Jahren von neuen weltweiten Kriegen – im Neusprech »humanitäre Einsätze« – vor Augen geführt wird. Denn: »Noch ist der Erzfeind aller Kultur und allen Menschenglücks nicht erledigt. – Vollgesoffen mit rotem Menschenblut zog sich der Drachen in die Höhle zurück. Auf wie lange?« Diese Frage stellte Ossietzky 1919. Und die Tatsache, daß sie 100 Jahre nach dem ersten weltweiten Völkergemetzel noch beziehungsweise wieder offen ist – wobei der Drache als Drohne auftritt – und wir uns nicht nur mit der Gefahr eines erneuten Krieges zwischen West und Ost an der Grenze zu Rußland beschäftigen müssen, sondern endlosen Gemetzeln in Afghanistan, Irak, Syrien, Gaza, Libyen, Mali, Sudan, Nigeria und so weiter gegenüberstehen, zeigt, wie wenig sich – trotz allem – an den Ursachen der Kriege geändert hat: »… die Wirtschaft und der dumpfe Geisteszustand unaufgeklärter und aufgehetzter Massen«, so hatte es Tucholsky (1927) auf den Punkt gebracht.
Doch vor hundert Jahren konnte man noch hoffen. Hoffen auf eine Veränderung der Weltlage – basierend auf der Ablösung der alten Imperien durch demokratisch legitimierte Republiken, in denen das »Volk« das Sagen hätte. Schon früh hatte sich Ossietzky in der Demokratischen Vereinigung Hamburgs engagiert, deren Schriftführer er 1913 wurde. Bereits 1911 trat er in ihrem Presseorgan Das freie Volk, für ein anderes, ein »demokratisches« Deutschland ein. Das sollte laut Ossietzky sowohl den »Geldsackinteressen« der Großbourgeoisie als auch dem Nationalismus des Kaiserreichs entgegentreten. Schon damals brandmarkte er die »nackte Brutalität der Scharfmacher« und die »Industriedemagogie«, die jede Kritik an den herrschenden Zuständen mit der Verrufserklärung »Er ist Sozialdemokrat!« abweisen wollte, was damals soviel hieß wie heute Kommunist, Terrorist oder neuerdings auch Antisemit.
Anläßlich der Verurteilung Rosa Luxemburgs vor dem Landgericht Frankfurt am Main im Februar 1914 beobachtete Ossietzky, wie sich »mit seltener Schärfe« an ihrem Prozeß die »ungeheure Kluft« aufgetan habe, »die die Denkweise des offiziellen, des ›staatserhaltenden‹ von der des demokratischen Deutschlands trennt«. Denn der Prozeß habe deutlich gemacht: »Wir sind in unserem politischen Leben nicht mehr ein Volk; wir sind zwei Schichten, von denen die eine die Sprache der anderen nicht versteht.«
Und kurz darauf stellte er fest: »Die Aufklärungsarbeit ist schwer. Es gilt Berge von Mißtrauen und Verhetzung abzutragen, die die Reaktion in Jahrzehnten zusammengeschleppt hat, um dem betrogenen Volke den freien Ausblick zu rauben. Die Liberalen haben überall versagt. Demokraten an die Front!«
Der folgende Weltkrieg führte sie zunächst an andere Fronten in West und Ost. War der Antimilitarist Ossietzky bei Kriegsbeginn 1914 noch davon ausgegangen, daß das deutsche Volk, bedroht vom Panslawismus, »um seine Existenz ringt«, so begriff er als »Schipper« an der Front rasch, worum es wirklich ging: »Der Imperialismus und der moderne räuberische Kapitalismus brauchen das Chaos, das arbeitende Volk braucht Organisation und Freiheit. Möge nach dem Weltkriege ein modernes, friedliches Deutschland entstehen.« (1915)
Doch: Was dient dem Frieden? Das war nach dem Horror des Weltkriegs für Ossietzky zur politischen Kernfrage geworden und zum Maß für die Beurteilung aller politischen Entwicklungen: 1920 waren Frieden, Demokratie und Republik für ihn nur als Einheit denkbar; es waren kämpferische Begriffe, deren Inhalte noch zu verwirklichen waren, und folgerichtig sah er die größte Gefahr für diese im aufziehenden Faschismus. In dessen italienischen Anfängen erkannte er bereits »die Gegenrevolution als Präventivmittel gegen den sozialistischen Umsturz«. Der parteilose Ossietzky begriff, daß die Rechte klar zum Gefecht macht, während die Linken ihre Zwiste austragen. Angesichts der europäischen Krise von 1923 notierte er: »Die Völker fühlen sich als Spielbälle von Kräften, die sie nicht verstehen. Sie fürchten die kommunistische Drohung, sie erschauern unter dem gigantischen Anschwellen des Großkapitalismus … Es ist eine stehende Erfahrung: Wo der Arzt in Mißkredit gekommen ist, schleicht der Scharlatan ins Haus. Und die moderne politische Scharlatanerie kristallisiert sich in dem vielfarbigen, vieldeutigen Begriff: Fascismus.«
Ossietzky wurde zu einem der entschiedensten Verfechter eines »politischen Pazifismus«. Auf dem Weltfriedenskongreß 1924 in Berlin forderte er: »Der Pazifismus muß politisch werden, und nicht nur politisch. Die notwendigste Idee unserer Zeit darf nicht zum Steckenpferd kleiner Prinzipienjockeys werden. Der Weg zum Volk muß gefunden werden, damit das deutsche Volk endlich wieder den Weg zu den Völkern findet … Der Pazifismus Herriots und MacDonalds ist politisch, das heißt real fundiert, beweglich und deshalb auch bewegend. Er arbeitet mit den Mitteln der Politik. Der deutsche Pazifismus war immer illusionär, verschwärmt, gesinnungsbesessen, argwöhnisch gegenüber den Mitteln, argwöhnisch gegen die Führer, die sich dieser Mittel bedienten ... Deshalb mochte es ihm zwar gelegentlich gelingen, ein paar Parolen populär zu machen, Versammlungserfolge zu erzielen, organisatorisch hat er nie die Massen erfaßt. Das Volk blieb immer beiseite. Der organisierte Pazifismus blieb immer eine sehr rechtgläubige Sekte, ohne federnde Kraft, eine etwas esoterische Angelegenheit, an der die Politik vorüberging, wie sie die Politik ignorierte.«
»Das Volk blieb immer beiseite« beziehungsweise unterlag schon während der Weimarer Republik der Propaganda der Rechten und dann der spezifischen Dynamik des Nationalsozialismus, die Ossietzky und die Autoren der Weltbühne zunächst unterschätzt hatten. Noch nach dem Erstarken der NSDAP in den Septemberwahlen 1930 hatte Ossietzky den Kampf gegen die Nazis für aussichtsreich gehalten und an den republikanischen Selbsterhaltungswillen appelliert: »Nieder mit dem Fascismus! Einerlei, ob er mit Hitler durch die Vordertür plumpst, ob er mit Brüning über die Hintertreppe schleicht!« Doch im Verlauf des Krisenjahrs 1931 wurde ihm klar, daß der Weimarer Staat unter Brüning zu schwach sein würde, um eine direkte Diktatur des Großkapitals durchzusetzen. Deutlich zeigt er dessen Verbindung zur Hitlerbewegung auf: »Der Staat ist auch nicht kräftig, nicht entschlossen genug, um die Gegenstöße eines allgemeinen Auflösungsprozesses, der sehr rebellische Formen annehmen kann, zu ertragen. Dann aber kommt die Stunde des Fascismus, dann wird die Hitler-Armee endlich etwas zu tun haben. Dann wird auch der Sieg des monopolisierten Kapitalismus vollkommen sein.« Die Wiederwahl Hindenburgs 1932 zeigte den Ernst der Lage: »Das ist das Erschütternde an dem gegenwärtigen Zustand: Nicht der Faschismus siegt, die andern passen sich ihm an. Brüning sucht sich Hitler anzugleichen, die Sozialdemokraten bilden sich an Brüning. Der Faschismus jedenfalls bestimmt das Thema.«
Ein Aktionsbündnis aller republikanischen Kräfte sah Ossietzky 1932 als letztes Mittel an: »Wir stehen an einem schicksalsvollen Wendepunkt. In absehbarer Zeit schon kann der offene Faschismus ans Ruder kommen. Republikaner, Sozialisten und Kommunisten, in den großen Parteien Organisierte und Versprengte – lange werdet ihr nicht mehr die Chance haben, eure Entschlüsse in Freiheit zu fassen und nicht vor der Spitze der Bajonette! Die Zeit der isolierten Aktionen geht zu Ende.« Seine beschwörenden Worte verhallten ohne Resonanz. Dabei hatte er bereits eine
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Neue Schlachten
Am 10. Mai 1932 warnte Carl von Ossietzky in der Berliner Weltbühne: »Überall wird heute mehr gerüstet als vor 1914 ...«
2014 wird des Ersten Weltkriegs gedacht und der Zweite in den Dritten fort-geführt. Heutige Friedens-Nobelpreisträger befehlen die Völker in neue Schlachten. Denn ohne Waffenproduktion und Blutvergießen funktionieren weder Kapital noch Religion.
Gerhard Zwerenz
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Einsicht formuliert, die man noch heute als hellsichtige Voraussage lesen kann: »Denn in dieser Epoche – das muß mit aller Schärfe gesagt werden – liegt die Initiative nicht mehr bei der Arbeiterbewegung, weder bei ihrem reformistischen noch bei ihrem revolutionären Flügel. Die Sozialdemokratie ist mit ihren opportunistischen Kniffen ebenso mit ihrem Latein zu Ende wie die KPD mit ihrem Treiben in die Weltrevolution. Primgeiger ist der Faschismus.«
Und trotz dieser Einsicht rang Ossietzky noch um ein Zusammengehen der Arbeiterparteien, denn: »Es kommt nicht mehr darauf an, recht zu behalten, sondern sämtliche Teile der sozialistisch organisierten Arbeiterschaft vor der Vernichtung zu retten. Wollen wir antiquierte Schlachten weiterführen, wo der Raum, in dem wir leben, immer enger wird?«
Eine – nach weitgehender Vernichtung einer solchen Arbeiterschaft und vor der Vernichtung weiterer Menschenmassen – noch immer aktuelle Frage.