Um heutige deutsche Politik und ihr Ausgreifen weit über die Grenzen hinaus – gern auch mit militärischen Mitteln – zu popularisieren, was ist da als erstes zu tun? Es ist überall bekanntzumachen, daß von der Verursachung des Ersten Weltkriegs durch das deutsche Kaiserreich keine Rede mehr sein dürfe. Deutsche Schuld ist kleinzureden, möglichst ganz zu bestreiten. Das ereignet sich seit einem Jahr vor unser aller Augen auf allen Kanälen und in fast allen Zeitungen. An vorderer Stelle beteiligt ist der australisch-britische Historiker Christopher Clark (»Die Schlafwandler«, übersetzt von Norbert Juraschitz).
Um der erneuerten imperialistischen und militaristischen Politik nach den beiden Niederlagen von 1918 und 1945 die Bahn zu ebnen, was ist da zweitens zu tun? Der Bevölkerung ist die Behauptung einzuschärfen, auch die Verursachung des Zweiten Weltkriegs sei nicht dem deutschen Reich anzulasten. Und wer wäre dann für ihn verantwortlich? Das Ausland. Die Politik der Gegner im Ersten Weltkrieg. Besonders der Friedensvertrag von Versailles, den sie den Deutschen oktroyiert hätten. Der Historiker Gerd Krumeich nennt dies »ein apologetisches Totschlagargument«. Wer es verwendet, setzt die Nazi-Propaganda fort, die den Deutschen verhieß, die »Fesseln von Versailles« zu zerbrechen. »Zug um Zug zerreißt Adolf Hitler das Diktat von Versailles«, rühmte sich Hitler-Deutschland 1938 auf einem Plakat.
Jetzt ist es der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, der 100 Jahre nach Beginn des Ersten und 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs das Totschlagargument vor großem Publikum wiederholt. Die Lübecker Nachrichten vom 10. September berichteten: »Der Ansturm auf das Theater Lübeck war enorm, ins große Haus strömte Publikum jeden Alters, ganze Schulklassen summten im Foyer, auch Vertreter überregionaler Medien standen bereit.« Sie kamen, um einer Diskussion des Schriftstellers mit Avi Primor (von 1993 bis 1999 Botschafter Israels in Deutschland) beizuwohnen. Weiter im Bericht: »Von Grass darf man erwarten, daß er bei einem solch vielbeachteten Auftritt die eine oder andere Aufsehen erregende Position einnimmt. Er enttäuschte nicht.« Manches habe zwar nicht »Premieren-Qualität« gehabt, »doch eine andere Aussage war mutig: Mancher Friedensschluß trage bereits den Grund für den nächsten Krieg in sich. Grass meinte den Vertrag von Versailles, der Deutschland und seine Verbündeten zu alleinigen Schuldigen für Krieg und Kriegsfolgen erklärte.«
War die Aussage wirklich »mutig«? Der Verfasser des Zeitungsberichts, Michael Berger, ließ dezent durchblicken, daß er sie als nicht ganz salonfähig empfand: »Die Ansicht, Deutschland sei 1919 durch das ›Versailler Diktat‹ zum Sündenbock gemacht worden, war bisher in rechten Kreisen anzutreffen.« Er fügte noch eine Beobachtung an: »Der unabhängige Geist Avi Primor nickte dazu.« Und Berger orakelte: Ob Grass wirklich ein Tabu berührt, werden die Reaktionen zeigen.«
Festzustellen bleibt: Grass‘ »mutige Aussage« hatte keine Spur »Premieren-Qualität«. Sie entstammt dem Repertoire der NPD, deren Abgeordneter Timo Müller am 21. November 2008 im Schweriner Landtag bereits an das »Tabu« gerührt hatte: »Die Saat des Zweiten Weltkriegs wurde in Versailles gelegt.« Was ihm einen Ordnungsruf des Parlamentspräsidenten einbrachte.
Nein, Grass leistet wieder einmal nichts Originelles. Sein Diskussionsbeitrag, mit dem er »nicht enttäuschte«, ist NS- und NPD-Diktion. Sie wird gebraucht, wenn Deutschland wieder einmal nach der Weltmacht greift.