Während Medien und Politiker des Westens sich um Menschenrechte und Zivilgesellschaft in Kuba sorgen, wird für die gleichen Ziele anderswo weiter gemordet. Im afghanischen Kundus fielen am 3. Oktober zwischen 2.08 und 3.15 Uhr weit über 50 Zivilisten einem Bombardement der US-Luftwaffe zum Opfer. Ärzte, Klinikmitarbeiter und Patienten wurden beim Angriff der »Befreier« auf ein Krankenhaus der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen getötet oder schwer verletzt. Die ARD meldete den Vorfall zynisch unter der Überschrift: »Möglicherweise ein Kollateralschaden«. Das weckt Erinnerungen an die Heldentat des mittlerweile zum Brigadegeneral beförderten Bundeswehroberst Georg Klein, der am 4. September 2009 einen Befehl erteilte, demzufolge am gleichen Ort das Leben von bis zu 140 Zivilisten ausgelöscht wurde. Wenn die Verteidiger der »christlich-westlichen Werte« sich um Zivilisten kümmern, besteht Grund zur Sorge.
Gut eine Woche zuvor hatte der für christliche Werte zuständige Papst Franziskus der US-Elite noch die Leviten gelesen, hatte Militärs, Krieg und Waffenhandel kritisiert. Der Export von Waffen, die »Einzelnen und Gesellschaften unsägliches Leid« zufügten, geschehe »einfach um des Geldes willen«, sagte der Pontifex am 24. September vor dem US-Kongress. »Für Geld, das von Blut – oft unschuldigem Blut – trieft«, fügte er hinzu (http://de.radiovaticana.va). Die USA sind der weltweit führende Exporteur von Waffen. Einen Tag nach der Rede, kündigte der republikanische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, John Boehner, der den Papst eingeladen hatte, seinen Rücktritt an. Meinungs- und Religionsfreiheit, die in den USA aber auch in bundesdeutschen Mainstreammedien in Bezug auf Kuba hoch im Kurs stehen, mussten offenbar höheren Werten weichen.
Das »Land of the free« war für den Stellvertreter Jesu Christi auf Erden ein schwieriges Pflaster. Sein Satz »Auch in der entwickelten Welt sind die Auswirkungen ungerechter Strukturen und Handlungen allzu offensichtlich«, die höflich vorgetragenen, aber klaren Aussagen zum anhaltenden Rassismus gegen Afroamerikaner, zum Umgang mit den an der mexikanischen Grenze ankommenden Flüchtlingen und den Ureinwohnern lassen sich wie die Verurteilung der Todesstrafe, die Aufforderung zu mehr Klimaschutz und die Kritik an Konsumgesellschaft und Wegwerfkultur nur als Aufforderung an die USA verstehen, ihre Politik zu ändern. Franziskus sagte auch: »Wenn die Politik wirklich im Dienst des Menschen stehen soll, folgt daraus, dass sie nicht Sklave von Wirtschaft und Finanzwesen sein kann.« (http://de.radiovaticana.va)
Bei seinem vorangegangenen Aufenthalt in Kuba – wo anders als in dem Land, das vorgibt, in aller Welt für die Pressefreiheit einzutreten, jede seiner Reden im Wortlaut veröffentlicht wurde –, hatte der Papst neben kritischen Bemerkungen auch zu Kontinuität aufgefordert. Er lobte Havannas Vermittlerrolle bei den Friedensgesprächen zwischen der Regierung und der Guerillaorganisation der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc), den Umgang mit Alten, Kranken und Kindern in der kubanischen Gesellschaft und rief die Kubanerinnen und Kubaner in der Kirche der Schutzpatronin »Jungfrau von Cobre« dazu auf, sich wie Maria von »der Zärtlichkeit der Revolution« leiten zu lassen (www.schoenstatt.org). Freundschaftliche Gespräche mit dem Präsidenten Raúl Castro und dessen Vorgänger, Revolutionsführer Fidel Castro, reizten Contras in Miami und Kommentatoren bundesdeutscher Medien zu giftigen Kommentaren.
Mit den Castro-Brüdern verbindet Franziskus jedoch mehr als nur die gemeinsame Sprache und lateinamerikanische Herkunft. Während er seine Wertschätzung für Obama zum Ausdruck brachte, warnte der Papst vor der vereinfachenden Sichtweise dessen Vorgängers George W. Bush und vor einem »grob vereinfachenden Reduktionismus, der die Wirklichkeit in Gute und Böse oder, wenn Sie wollen, in Gerechte und Sünder unterteilt«.(http://de.radiovaticana.va) Nicht kommentiert, aber zur Kenntnis genommen hatte Franziskus, dass Kuba als Geste aus Anlass seines Besuches mehr als 3.500 Häftlinge freigelassen hatte, die USA dagegen nicht einen einzigen.
Raúl Castro dürfte dem Vertreter des Vatikans aus dem Herzen gesprochen haben, als er am 29. September in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, daran erinnerte, dass 795 Millionen Menschen Hunger leiden, 781 Millionen Erwachsene Analphabeten sind und jeden Tag 17.000 Kinder an heilbaren Krankheiten sterben, während die jährlichen Rüstungsausgaben weltweit auf mehr als 1,7 Billionen Dollar gestiegen sind. Schon mit einem Bruchteil dieser Summe, sagte Castro in New York, könnten die drängendsten Probleme gelöst werden, unter denen die Menschheit leide.
Für seinen Beitrag erhielt der Vertreter des sozialistischen Kubas den längsten Beifall aller Redner dieses Tages. Der vermeidbare Tod von Ärzten, Pflegern und Patienten in Kundus lässt jedoch befürchten, dass seine Vision bei den Verteidigern der westlichen Werte keine Chance hat.