Wenn Venedig stirbt ... (Susanna Böhme-Kuby)
so die Schlussfolgerung des Autors am Ende seines Pamphletes – wenn Venedig stirbt, dann stirbt die eigentliche Idee von Stadt als offenem und vielfältigem Raum sozialen Lebens, Grundlage für Zivilisation und Demokratie. Um letzteres geht es. Salvatore Settis legt kein neues Buch über Venedig vor, sondern der engagierte Kunsthistoriker und Archäologe vereinigt einige seiner jüngsten Vorträge zu einer von Victoria Lorini ins Deutsche übersetzten »Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte«. Das ist im Italien der urbanen Vielfalt mit seiner einst beispielhaften Stadtkultur ein hochaktuelles Thema, angesichts sogenannter Modernisierungsprojekte und einer zunehmend kommerziellen Valorisierung historischer Bauten bei grassierender Immobilienspekulation inmitten touristischer Monokulturen.
Städte als komplexe lebendige Konstrukte setzten sich über Jahrhunderte aus Steinen und Menschen, aus der Stadtbevölkerung und ihren Lebensbedingungen zu historischen Erfahrungsräumen zusammen. Verschwinden letztere, Settis nennt das post-antike Athen als Beispiel, geht das einher mit einer kollektiven Amnesie, und wie bei Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren, auch mit dem Vergessen der eigenen Würde. Hauptthema von Settis‘ Betrachtungen ist also die Unterwerfung auch der Stadtentwicklung unter die zunehmend zerstörerischen Bedingungen der neoliberalen Ökonomie, die die Bedürfnisse der Mehrheit der Menschen und eben auch der Stadtbewohner ignoriert, deren Anzahl heute bereits auf mehr als die Hälfte aller Erdbewohner gestiegen ist.
Settis beschreibt den Wandel der Stadt vom höchsten Kulturprodukt unserer Zivilisation, Wiege bürgerlicher Werte und Demokratie, hin zur exorbitanten Megalopole, in der sich Abermillionen Menschen zusammendrängen bis in weit ausufernde Bidonvilles »im Namen von Produktivität, geblendet von der Illusion des sozialen Aufstiegs oder um des nackten Überlebens willen«. Als Beispiel für diesen vor allem außerhalb Europas rapide voranschreitenden Trend nennt Settis unter anderem das chinesische Chongqing, das von 600.000 Einwohnern um 1930 auf inzwischen 32 Millionen anwuchs. Auch in europäischen Städten sind Tendenzen zur Anpassung an die konsumgesteuerte Produktionsmaschinerie (Wolkenkratzer, Stadtautobahnen, Satellitenviertel, Schlafstädte) in vollem Gange.
Die in einem zunehmend deindustrialisierten Italien errichtete glamouröse Hochhauskulisse im Zentrum Mailands stellt jedoch laut Settis keinen »verspäteten Triumph der Moderne, sondern ihre Fiktion« dar, die keinen Wachstumsprojektionen entspricht. Und die Typologie des Wolkenkratzers ist auch anderswo in Italien dabei, sich losgelöst von Raumentwicklungsplänen durchzusetzen. Selbst im sich entvölkernden Venedig ist ein 250 Meter hoher Riesenturm angedacht (der vom neugewählten Bürgermeister der Stadt als positiver »moderner« Impuls gesehen wird, ebenso wie die schwimmenden Hochhäuser der Kreuzfahrtungetüme; Anmerkung S. B.-K.). Settis sieht in diesem Gigantismus einen »Fetisch des Kapitalismus ... reproduzierbar als das architektonische Gesicht eines schrankenlosen Neoliberalismus«, dessen ökonomische Hintergründe und soziale Folgen ausgeblendet und verschleiert bleiben und folglich als »naturgegeben« erscheinen.
Als Gegenbild zur Megalopolis erscheint die Stadt Venedig als verborgenes Urbild aller Städte, von denen der Erzähler, Marco Polo, in Italo Calvinos »Die unsichtbaren Städte« dem Groß-Khan berichtet. Ihm folgend ist auch für Settis der mehr als tausendjährige Stadtkomplex in der Lagune, als vollendeter Ausdruck der engsten Symbiose von Natur und Kultur, das Sinnbild für alle Städte und gilt als Paradigma der historischen Stadt überhaupt. Und er tritt ein für eine neue Betrachtungsweise der Altstadt-Problematik, bei der Fortschritt und Konservierung bisher als unüberbrückbare Gegensätze gelten. Settis schlägt die Realisierung von Alternativen zum fortschreitenden »Einheitsgedanken, der auf der ganzen Welt ein einziges Modell identischer Neustädte durchsetzen will«, vor. Venedig ist dabei ein Prüfstein im bestehenden Auflösungsprozess seiner »forma urbis« die – verdeutlicht durch den immer bedrohlicheren Bevölkerungsschwund – mehr und mehr zu bloßer Residualexistenz verurteilt scheint, zur passiven Kulisse des Tourismus (nur noch 56.000 Einwohner in der Altstadt bei circa 34 Millionen Besuchern pro Jahr).
Es geht für das Überleben Venedigs also nicht um die Konservierung von Vergangenem oder das Auskosten des Jetzt durch immer neue Events, sondern um die Reaktivierung einer tätigen Bürgerschaft, die »den Vorrang des Gebrauchswertes der Stadt über den Tauschwert stellt«. Es geht um das »Recht auf Stadt«, das heißt auch »um das Recht junger Menschen auf eine kreative Arbeit, auf Wohnung und auf eine Zukunft«. Und Settis schließt dabei die »Neuitaliener« ein, die aus vielen Weltteilen kommen und ein anderes Bewusstsein entwickeln können, als das, was der »trügerische Kosmopolitismus der über Venedig hereinfallenden Touristenhorden« suggeriert. Damit stellt der Autor allerdings eine gesellschaftspolitische Forderung, die über die Stadtproblematik weit hinaus und die Italien und ganz Europa angeht.
Wie zum Beispiel der Fall MoSE (das umstrittene und korrupte Mammutprojekt zum Schutz vor dem Hochwasser) zeigt, dienten gerade die Umwelt-Probleme Venedigs als Vorwand für einen vorgeblichen »Kulturschutz«, der gigantische Raubmechanismen deckt, die auch in anderen »Großprojekten« Italiens weiterhin am Werke sind. Einige der Verantwortlichen stehen nun vor Gericht, aber ihr System scheint ungebrochen. Umso notwendiger erscheint es, die Dimension der Erinnerung an ein »Anderes« zu bewahren und weiterzuentwickeln, weil ihr fortschreitendes Verschwinden inzwischen das gesamte menschliche Zusammenleben bedroht: »Es raubt der Gegenwart den Atem und gefährdet die Zukunft.«
Salvatore Settis, Victoria Lorini (Ü.): »Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte«, Wagenbach, 154 Seiten, 14,90 €