Das Deutsche Theater Berlin könnte man fast Lessingtheater nennen, wenn es das nicht bereits gegeben hätte – es wurde im letzten Weltkrieg zerstört. Kaum ein Klassiker ist so oft im DT gespielt worden wie Gotthold Ephraim Lessing. Und am liebsten und häufigsten »Nathan der Weise« (1779), der zudem 1783 in Berlin uraufgeführt worden ist (Döbbelinsche Truppe). Das »Dramatische Gedicht«, so der Untertitel, gehörte in der Phase nach 1945 zum deutschen Repertoire. Dieses Hohelied der Humanität taugte hervorragend für die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus, mit dessen verbrecherischer Judenpolitik im Besonderen.
Lessing hatte sich nahezu lebenslang mit jüdischer Thematik befasst: von »Der junge Gelehrte« über »Die Juden« bis hin zu »Philotas« und anderen Texten. Nachdrücklich und besonders wirkungsmächtig im »Nathan«. Im Grunde verdanken wir das Glanzstück (stofflich einer Boccaccio-Novelle entnommen) einer hässlichen religiös-politischen Auseinandersetzung mit einem lutheranisch-orthodoxen Geistlichen namens Johann Melchior Goeze aus Hamburg. Als man dem polemischen Schriftsteller Lessing publizistische Schwierigkeiten bereitete, schrieb er das Stück und verschaffte sich eine Tribüne auf der Bühne.
Die Handlung muss hier nicht erzählt werden: Es geht um das Verhältnis der drei abrahamitischen Religionen beziehungsweise deren Machtstellungen: Da sind eben Missverhältnisse, besonders des machthabenden Christentums (vertreten durch einen Patriarchen gegenüber den unterdrückten Juden und dem Gegner Islam, womit auch schnell Gegenwart gedacht werden kann). Doch jede Seite hat auch von Vernunft geleitete Vertreter (lernfähiger Tempelherr und Daja bei den Christen, den aufgeklärten und ebenfalls lernfähigen Sultan des Islam, die islamische Schwester Sittah). Das ist dramaturgisch hervorragend eingerichtet, in so klugen wie schönen Jamben – die deutsche Sprache klingt und leuchtet in klassischem Glanz. Ach, wenn sie doch nur geklungen hätte in dieser Aufführung! Man verstand selbst als Textkenner vieles gar nicht, fast alles viel zu hastig, gehetzt, gejagt, was nur in einigen sehr konfliktiven Dialogen angebracht gewesen wäre. Einige Stellen kamen herüber, gut die Ringparabel-Szene, besonders im ersten Teil; mit dieser Szene keimte die Hoffnung, dass nach dem zerfahrenen Beginn die Fabel Gestalt annehmen, die Spielweise gestisch genauer werden könnte – weit gefehlt, bald zerfiel alles wieder.
Dabei hätte man aus den reichen Erfahrungen just dieser Bühne mit diesem Drama, dieser märchenhaft-geistreichen Komödie, lernen können.
Ich hatte das Glück, kurz nach der Rückkehr aus dem Exil um 1947/48 als knapp Sechzehnjähriger den »Nathan« in einer Inszenierung vom Fritz Wisten aus dem Jahre 1945 noch mit Paul Wegener zu sehen. Das war fürchterliche Anklage in den Tonlagen von stiller Trauer bis zum großen Hassausbruch. In der 1955 von Adolf Peter Hoffmann überarbeiteten Inszenierung hatte Eduard von Winterstein den Nathan übernommen und spielte ihn lange, bis kurz vor seinem Tode 1961. Ich sah ihn in dieser Rolle zweimal: 1955 – es war ein Weihespiel; 1961 – er war im 90. Lebensjahr – stand nur noch eine ruinöse Erinnerung großer Theaterzeit auf der Bühne, gestützt und mit ständig vorgeflüstertem Text.
1957 inszenierte Wolfgang Heinz das Drama, und 1966 spielte er selbst den Nathan in einer Regie von Frido Solter. Dieser Nathan ist mir unvergesslich, unglaublich die Schlussszene: Die Sich-gefunden-Habenden der einstigen Familie feiern heiter, sich umarmend, Nathan steht einsam vorn am Bühnenrand – minutenlang: Der Jude bleibt draußen. Übrigens hatte Ernst Deutsch 1962 im Schillertheater in der Szene fast gleich gestanden – Draußenbleiben, eine jüdische Grunderfahrung. Diese beiden waren als Juden die stärksten Nathane.
1987 meisterte das DT ein Lessing-Trio: »Emilia Galotti« am 5. Oktober (Regie Michael Jurgons, Hauptrolle Dagmar Manzel), am 6. Oktober »Philotas« (Regie Frido Solter, Hauptrolle Ulrich Mühe) und am 7. Oktober »Nathan der Weise« (Regie Solter, als Schauspieler unter anderem Otto Mellies, Jörg Gudzuhn, Karl Paryla, Ulrike Krumbiegel, Christine Schorn, Dieter Mann, Ulrich Mühe). Das war so anstrengend wie aufregend, ebenso lehrreich. Die Konstanz Lessingscher Humanität wie die Entwicklung seiner dialektischen Denkweise waren groß herausgespielt. Ein starkes Antikriegsstück – dieser Philotas, ein Stück, das im Werkkanon erst richtig kennenzulernen war. Und »Nathan«! Walter Jens sah das Stück so: »eine tiefernste, weil von Pogrom, Fanatismus und Mordplänen handelnde Komödie ... Nathan: der Shylock des Humanitätszeitalters …« Der Schluss zwischen Märchen und Operette beziehungsweise Singspiel, ein – modern ausgedrückt – Happy End! Der überraschende Otto Mellies ist als ein jüngerer Nathan eines neueren Zeitalters in Erinnerung geblieben.
Mit so viel Ernst und Intelligenz, Phantasie, komödischer Haltung und Spielfreude gingen alle jene Vorher-Spieler mit dem Stück in diesem Hause um – trotz aller Unterschiede in Konzept und Realisierung. Man erinnert sich noch lange daran, an Bilder und Szenen.
Was bleibt von der neuen Produktion? Zwei oder drei Szenen – und sie zum Teil auch nur ansatzweise gelungen, ansehbar, etwas vergnüglich. Aber nur an der Oberfläche. Zwar ist Lessings »dramatisches Gedicht« eine Komödie, doch auch eine ernste. Der wirkliche Sinn, der Geist blieben zaghaft unter der Maske. Diese schrecklichen Schmutzmasken der Darsteller verdunkelten zudem noch alles, was vielleicht erkennbar gewesen wäre.
Die Geschichte als Ganzes war schlecht erzählt, selbst für Kenner nicht immer erkennbar. Es ging ins Absurde. Aber vielleicht war das Absicht? Sollte es eine Denunziation des Stückes sein: Hört, seht zu, es ist ein überflüssiges Stück – wir bringen es, um es kaputt zu machen, es als kaputt zu zeigen, diese Humanität ist nicht mehr möglich, es ist eh alles zu Ende! Es ist eine Aporie. So etwa könnte es in den Ganglien jener Urheber zugegangen sein.
Sie heißen übrigens: Elias Arens, Nina Gummich, Bernd Moss, Julia Nachtmann, Jörg Pose (Nathan), Natali Seelig (Patriarch, warum diesen Machtmenschen so harmlos-lächerlich?); Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Harald Thor (Kubus in leerem Theaterraum, ziemlich langweilig hin- und hergeschoben, was sollte die alberne Leiter?), Dramaturgie: Juliane Koepp.
Gegen eine Kritik unseres schäbigen Zeitalters ist nichts einzuwenden: Doch selbiges dauernd anzuhören, wird so langatmig wie langweilig, so etwa das Thema des ewigen Scheiterns. Was man doch mal sehen wie hören möchte, sind Gegenentwürfe, die es da und dort in Büchern gibt, aber kaum noch auf der Bühne, bei einigen, meist klassischen Dramatikern schon. Was für andere Lebensmöglichkeiten hätte denn diese Erdenwelt-Menschheit? Wie mit Anstand beziehungsweise einfach leben, sich wehren können, Widerstand leisten müssen? Wie das Humanum erhalten – das wären doch Themen. Sujets findet man sicherlich. Und ein unweiser Nathan, kein fehlerfreier Held, kein allwissender Gott, dafür einer, der den Streit alter Denkweisen, wie sie Religionen repräsentieren, überflüssig machen will, ist der unfroheste Anreger nicht! Ich wünschte mir einige frohe Anreger.