Unsere Zustände
Die Flüchtlingsströme schaffen eine Absurdität unseres Lebens: Den menschlichen Kapitalismus. Voller Güte sichtet er die kommenden Schäfchen und errechnet ihre Schur.
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Frau von der Leyen zieht alle nicht treffenden Gewehre aus der Armee zurück. Wenn doch alle Gewehre von Armeen nicht träfen!
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Das ist die Perversität unserer Zeit: Wir haben Appetit. Die anderen haben Hunger.
Wolfgang Eckert
Lähmung in Israel
Schon lange ist es zu spät. Dabei ist es noch früh in dem Roman »Judas« von Amos Oz: elf Jahre nach der israelischen Staatsgründung und acht Jahre vor dem Sechstagekrieg, mit dem das brutale Besatzungsregime und der intensive jüdische Siedlungsbau im Westjordanland beginnt. Zu spät? Oder gab es nie eine Chance? Ist es zu spät für Fragen?
Einer hat damals, 1948, dem Übervater Ben Gurion getrotzt, vor der übereilten, auf Militärgewalt gestützten Staatsgründung gewarnt und geduldige Verhandlungen mit den Arabern über ein friedliches Nebeneinander verlangt: Schealtiel Abrabanel. Er wurde aus der zionistischen Führungsmannschaft ausgeschlossen und starb vereinsamt, verfemt als Verräter. Ein Verräter wie Judas?
Von Judas fasziniert ist der junge Schmuel Asch, ein Atheist mit verblassenden sozialistischen Idealen, der Jesus verehrt als Verkörperung von Menschenliebe und Friedfertigkeit und an einem Buch über »Jesus in den Augen der Juden« arbeitet. In Judas sieht er eben nicht den Verräter, sondern den einzigen Jünger, der wirklich an den Gottessohn geglaubt hat und ihn in den Kreuzestod trieb, damit er, herabsteigend vom Marterholz, endlich seine Herrlichkeit als der ersehnte Messias erweise.
Von der Freundin verlassen und durch den Konkurs seines Vaters mittellos geworden, hat Schmuel seine Studien abgebrochen und sich von der Tochter Abrabanels anheuern lassen als täglicher Gesprächspartner ihres Schwiegervaters Gerschom Wald, an den sie die gemeinsame Trauer um Micha bindet, ihren Mann und Walds Sohn, der als Freiwilliger im Unabhängigkeitskrieg grausig ums Leben kam. Stoff genug, so möchte man meinen, für einen großen politischen Roman des Forschens, Ergründens, Hinterfragens
Doch über Schealtiel Abrabanel erfährt Schmuel herzlich wenig in diesem seltsamen Jerusalemer Totenhaus, das er nach vier Monaten in eine höchst ungewisse Zukunft verlässt. Auseinandersetzung mit der Versöhnungsbotschaft Abrabanels findet nicht statt. War er der Verräter, als der er gilt, oder der Warner vor einem fundamentalen Verrat am Judentum? Ebensowenig gibt es ein inneres Ringen Schmuels um die Klärung seiner Jesus-Verehrung und seiner Judas-Obsession samt ihrer Bedeutung für sein jüdisch-israelisches Selbstverständnis. Ein langer Monolog des Judas über die Motive und die Folgen seines scheinbaren Verrats steht völlig unverbunden wie ein Findlingsblock in der Mitte des Romans; der Leser kann nur vermuten, dass es sich wohl um einen Textentwurf Schmuels handeln muss. Erzählt wird stattdessen, eingebettet in die Schilderung der alltäglichen Verrichtungen, von der hoffnungslosen Liebe Schmuels zu Abrabanels Tochter, die zu verhärmt und verstört ist, um noch Nähe zu ertragen, und nur für Augenblicke eine scheue Zärtlichkeit zulassen kann.
Als zartes Kammerspiel über den Nahostkonflikt wird dieser Roman gerühmt. Es ist ein Vexierspiel der flüchtigen Andeutungen und Anspielungen, des Verschweigens und Vermeidens, das alles in der Schwebe lässt und keinen genaueren Blick in den tragischen Abgrund riskiert. Es ist damit ein Dokument schriftstellerischer Resignation. Es zeigt, wie nachhaltig das ausweglose Scheitern des zionistischen Projekts an sich selber auch die politischen und intellektuellen Phantasiekräfte israelischer Autoren lähmt, die für den Frieden sind, aber vor dem Preis zurückschrecken, den er kosten würde.
Hans Krieger
Amos Oz: »Judas«, Ü: Mirjam Pressler, Suhrkamp Verlag, 335 Seiten, 22,95 €
Rankingkong
Wenn die Antworten knapp werden, häufen sich die Umfragen. Eine solche Befragung nach den Beliebtheitswerten von Spitzenpolitikern hat soeben bemerkenswerte Verschiebungen auf der Sympathieskala ergeben. Weniger denkwürdig als das jeweilige Ergebnis solchen Rankings ist dessen Erscheinungsbild. Es erinnert mich an meine Schulzeit. Damals gab es beim Diktatschreiben ab elf Rechtschreibefehlern die 6 als schlechteste Zensur. Nach Rückgabe der Arbeiten setzten sich alle die, die eine 6 bekommen hatten, zusammen und ermittelten ihre Rangfolge. Die Besten waren die mit elf Fehlern, danach kamen die mit zwölf und so fort. Das ist der Umgang mit und unter Qualitätsversagern.
Günter Krone
»Freipass« gestiftet
Das ist vermutlich das letzte neue Buch mit einem bisher unveröffentlichten Manuskript aus seiner Feder, das Günter Grass vor seinem Tod noch in die Hand nehmen konnte: Der Band »Freipass«, mit dem die 2011 gegründete Günter- und-Ute-Grass-Stiftung in diesem Frühjahr ein Periodikum startete, das Raum bieten soll für die Behandlung wichtiger Fragen der Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts.
Den zentralen Auftakt der Themenschwerpunkte dieses ersten Bandes bilden überraschender- und auch erfreulicherweise Beiträge zur Schriftstellerin Irmtraud Morgner aus Anlass ihres 25. Todestags (1933–1990). Ihr ebenso phantasievoller wie märchenhafter und wirklichkeitsnaher Roman – nein, diese Epitheta sind hier keine Widersprüche – über »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura« erschien 1974 in der DDR im Aufbau-Verlag mit einer Startauflage von 15.000 Exemplaren, der schon binnen Jahresfrist eine zweite Auflage von 10.000 folgte, die ebenfalls rasch vergriffen war.
Morgners Thema war dabei, wie später auch in »Amanda. Ein Hexenroman«, die Befreiung der Beziehungen zwischen Männern und Frauen aus der patriarchalischen Situation und ihre Entwicklung zu einem, wie sie damals sagte, »brüderlich-schwesterlichen Verhältnis« (FR vom 11.10.1975). Auch wenn anfangs ihr Buch von den bundesdeutschen Medien wenig goutiert und nur in der damals noch linksliberalen Frankfurter Rundschau und in konkret positiv besprochen worden war, übte der Roman auf linke und liberale Frauengruppen einen starken Einfluss aus. Morgner betonte vergeblich bei ihren Lesungen »im Westen«, sie sei Kommunistin. Für ihre Zuhörerinnen und die emanzipatorischen Bewegungen war sie schlichtweg die »Feministin«. Der »Freipass« spürt der damaligen Zeit nach: den 1968ern, dem Kalten Krieg und auch der Zensur, die Morgners Werk in der DDR erfuhr, ergänzt um »Worte zum Abschied« von Gerhard Wolf (erschienen in neue deutsche literatur 8/90) und einem einfühlsamen Beitrag von Christa Wolf, »Entwürfe über den Tag hinaus«, gesprochen 2003 als Einleitung zu einem Literaturabend bei den Salzburger Festspielen.
Eröffnet wird das Periodikum von dem schon erwähnten unveröffentlichten Grass-Manuskript: einem langen Gedicht über Subhas Chandra Bose, genannt »Netaji« (was laut Grass »Führerlein« heißen soll, anderen Quellen zufolge ein Ehrenname ist, der wohl so etwas wie »geehrter Führer« bedeutet), der heute noch »Bengalens unsterblicher Held« (Grass) ist, was der Dichter in Kalkutta erfuhr, wo er sich 1986/87 aufhielt.
Der Schwerpunkt zum NSA-Skandal und seinen Folgen enthält unter anderem die beiden Offenen Briefe der Schriftstellerin Juli Zeh (einer davon gemeinsam mit über 30 Autorinnen und Autoren) an die deutsche Bundeskanzlerin und den Aufruf der Schriftsteller vom Dezember 2013 zur Verabschiedung einer »Internationalen Konvention der digitalen Rechte«.
Klaus Nilius
Neuhaus u. a. (Hg.): »Freipass«, Ch. Links Verlag, 296 Seiten, 24,90 €
Jammern übers Wetter
Man will es einfach nicht glauben …, aber der zurückliegende Sommer mit seinen Hitzerekordwerten hat Gewinner und Verlierer hervorgebracht, besser gesagt: Zufriedene und Meckerer. Tatsächlich freute sich nicht jeder über den makellos blauen Himmel und die hochsommerlichen Temperaturen. Während sich Eisverkäufer und Biergartenbetreiber die Hände rieben, klagten Landwirte über Ernteausfälle und Binnenschiffer über Niedrigwasser.
Mal abgesehen von solch nachvollziehbaren Jauchzern oder Unmutsäußerungen, scheint das Jammern über das Wetter aber zur Wesensart des Deutschen zu gehören. Erst schimpft er über den Regen, doch sobald das Thermometer über 25 Grad anzeigt, wird über die unerträgliche Hitze gestöhnt. Bei jedem Wetter findet sich ein Grund zum Jammern. Da muss ich mich an den DDR-Witz erinnern: »Nur gut, dass wir das Wetter nicht selber machen. Ansonsten würden wir den Sonnenschein exportieren und das Sch…wetter selbst behalten.«
Aber nun, nachdem der Sommer 2015 schon Geschichte ist, kommen auch noch die Pilzsammler daher und winseln über ihre leeren Körbe. Im Vorjahr hatten sie sich über eine gute Saison freuen können, doch jetzt gehen die Chancen, im Wald fündig zu werden, tatsächlich gegen Null.
Aber was hilft unser Jammern? Dem Wetter ist das wurscht. Wir sollten es lieber genießen, egal ob Sonnenschein oder Regen.
Trotzdem: Was wäre das Wetter ohne unser Jammern? Ganz einfach: kein Wetter! Und zum Schluss mal ehrlich – war der Sommer nicht schön?!
Manfred Orlick
Recht so
In einem 2008 im Spiegel online veröffentlichten Interview hat Roman Herzog gesagt: »Es gibt auch ein Grundrecht auf Dummheit.«
Der Mann war Bundespräsident und ist rechtsgelehrt. Der weiß es: Jedes Grundrecht, auch wenn es nicht kodifiziert ist, hat Verfassungsrang. Deshalb darf man keinen aus seinem Amt entfernen, der es ausübt.
Günter Krone
Zuschriften an die Lokalpresse
Als Gelegenheitsleserin der jungen Welt freue ich mich darüber, dass sich auch dieses Blatt Sorgen um die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Mitbürger macht. So wird am 16. September von einer Online-Umfrage des Frankfurter Instituts Toluna berichtet, der zufolge fast zwei Drittel unserer Bundesmenschen befürchten, sich mit Krankenhauskeimen zu infizieren. Und gut ein Drittel der Befragten hat Angst vor einem verunreinigten Operationsbesteck. Ob es sich dabei um schon operierte Patienten oder um designierte OP-Anwärter handelt, geht aus der Auswertung leider nicht hervor.
In derselben Spalte veröffentlicht die Zeitung unter der verlockenden Überschrift »Cannabis wird immer beliebter« eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, nach der die Verbraucherquote von Jahr zu Jahr wächst. Schon zehn Prozent der Kinder im Alter von 12 bis 17 Jahren haben inzwischen ein Geschmäckle an der Droge entwickelt.
Pardon, jetzt hätte ich beinahe die Eingangsmeldung in derselben Spalte unterschlagen. Sie befasst sich mit der Sterbebegleitung, für die die niedersächsische Ärztekammer in Göttingen eine Beratungsstelle für niedergelassene Ärzte eröffnet hat. Nach der Aussage ihrer Präsidentin ist diese Einrichtung bisher einmalig.
Warum ich auf diese Nachrichten aufmerksam mache? Erstens, weil zwischen den unterschiedlichen Meldungen doch irgendein Zusammenhang besteht. Zweitens, weil selbst die junge Welt durch die einfache Auflistung der Informationen am Kern der Probleme vorbeischreibt. Die Tatsache, dass die Meldungen auf der Politik-Seite der Zeitung erscheinen, kann daran auch nichts ändern. – Maria Magdalena Minderzahl (53), Krankenschwester, zurzeit Invalidenrentnerin, 01920 Nebelschütz
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Laut Berliner Morgenpost haben Forscher des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung eine alarmierende Entdeckung gemacht: Seeadler, Bussarde, Möwen und Raben schlucken beim Verzehr von Tierkadavern bleihaltige Munition, die sie offensichtlich als besondere Delikatesse wahrnehmen. Das jedoch führt zu Vergiftungen, die zur starken Reduzierung der Bestände führen. Jetzt sollte untersucht werden, ob auch Drohnen solche gourmetischen Vorlieben entwickeln, was sich negativ auf das Verteidigungspotential auswirken könnte. – Hagen Bley (37), Unteroffizier, 13057 Berlin-Falkenberg
Wolfgang Helfritsch