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Titel2017

Über die Köpfe der Arbeiter*innen hinweg  (Eduard Meusel)

Die beiden Bücher »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon und »Das Ende von Eddy« von Édouard Louis haben nach ihrem Erscheinen in deutscher Übersetzung in den letzten Jahren hierzulande für viel Aufsehen gesorgt. Beide beschreiben darin jeweils ihre Kindheit und Jugend im Arbeitermilieu in der nordfranzösischen Provinz sowie ihre mit großem Aufwand und unter ständiger Selbstverleugnung erfolgte Sozialisation innerhalb des großstädtischen Wissenschafts- und Kulturbetriebs von Paris. Dabei legen sie vor dem Hintergrund ihrer Herkunft aus den unteren Schichten der Gesellschaft sowie ihrer Homosexualität Macht- und Herrschaftsstrukturen offen, die gleichzeitig als Erklärungsmodell für die Identitätskrise der französischen Linken und dem Erstarken des Front National dienen sollen.

 

Zwei Tage nach der Bundestagswahl war das Erstarken der extremen Rechten auch eines der Themen eines Gesprächsabends, zu dem die Münchner Kammerspiele die beiden Autoren geladen hatten. Moderiert wurde der Abend in Französisch und Deutsch vom SZ-Redakteur Alex Rühle, welcher vom Berliner Übersetzer der beiden Werke von Louis (»Das Ende von Eddy«, »Im Herzen der Gewalt«), Hinrich Schmidt-Henkel, der die Antworten der französischen Gäste ins Deutsche übertrug, und Thomas Hauser aus dem Kammerspielensemble, der ausgewählte Passagen aus »Rückkehr nach Reims« und »Das Ende von Eddy« las, flankiert wurde.

 

Im Hinblick auf das starke Abschneiden der AfD wurde im Laufe des Abends auch die Frage aufgeworfen, inwiefern daran die Linke einen Anteil trage. Besonders die Frage, wie eine »neue Linke« aussehen könne, wie sie neu zu denken sei, nahm in der Diskussion viel Raum ein. Eribon appellierte in gewohnt zurückhaltender, aber bestimmter Manier dafür, dass die Linke wieder mehr die Nähe zu Gruppierungen suchen müsse, die aus der Mitte der Arbeiterschaft oder Gesellschaft hervorgingen – also zu Vereinen, zu Gewerkschaften und vergleichbaren Bewegungen. So könne der Graben, der zwischen den Arbeiter*innen und der politischen Linken in den letzten Jahrzehnten entstanden sei, wieder überwunden werden. Exemplarisch verwies Eribon auf Podemos in Spanien, die sich vielerorts ebenfalls aus solchen Bewegungen speist, und Louis auf die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter.

 

Daneben hörte man vieles, was man bereits aus der Lektüre der beiden Bücher oder linken Medien kennt: Kritisiert wurden – mit Verweis auf Blair, Schröder, Hollande – etwa die Anbiederung der sozialdemokratischen und Arbeiterparteien an neoliberale Ideen und damit der Verrat an den genuinen Werten und Positionen dieser Parteien, welche letztlich für deren Verfall und Untergang verantwortlich gemacht werden müssen. Die Arbeiterklasse fühle sich durch die linken Parteien in ihren Ängsten und Nöten heute kaum mehr repräsentiert, ihre Interessen werden im politischen Diskurs von ihnen nicht mehr angemessen vertreten. In diese Lücke stießen rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien wie der Front National oder eben die AfD. In »Rückkehr nach Reims« drückt Eribon dies folgendermaßen aus: »Mit der Wahl der Kommunisten versicherte man sich stolz seiner Klassenidentität, man stellte die Klassenidentität durch die politische Unterstützungsgeste für die ›Arbeiterpartei‹ gewissermaßen erst richtig her. Mit der Wahl des Front National verteidigte man hingegen still und heimlich, was von dieser Identität noch geblieben war, welche die Machtpolitiker der institutionellen Linken, die Absolventen der ENA oder anderer technokratischer Eliteschulen, in denen eine dominante, mittlerweile transpolitisch funktionierende Ideologie fabriziert und gelehrt wurde, ignorierten oder sogar verachteten.« (S. 123, Übersetzung Tobias Haberkorn)

 

Überhaupt war erstaunlich, wie häufig an diesem Abend der Begriff der »Arbeiterklasse« bemüht wurde. Blickte man nämlich nicht nur auf das Podium, sondern ließ seinen Blick auch durch das Münchner Publikum schweifen, konnte man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die beiden auf der Bühne – Eribon und Louis – nahezu die einzigen waren, die dieser Klasse entstammten und sich ihr teilweise auch noch zugehörig fühlten. So war es etwas befremdlich, dass fortwährend über und teilweise auch für eine gesellschaftliche Schicht gesprochen wurde, die selbst nicht einmal anwesend war. Ist es da eigentlich verwunderlich, dass sich die Arbeiter*innen übergangen und nicht mehr ernst genommen fühlen, vor allem wenn gleichsam über ihre Köpfe hinweg darüber nachgedacht wird, wie eine Interessensvertretung für sie durch eine »neue Linke« aussehen könnte? Freilich ist dies nicht Eribon und Louis anzulasten. Es ist vielmehr die Verfehlung eines Kulturbetriebs und eines Feuilletons, welche die linke politische Theorie und deren Umsetzung mittlerweile als eine Art Volkssport und gepflegten Zeitvertreib für sich entdeckt haben. Wenn man so will, vollzieht sich hier eine weitere Enteignung der Arbeiterklasse. Nicht nur, dass sich das Bürgertum des Kapitals der Arbeiter*innen bemächtigt – nein, inzwischen sind die Arbeiter*innen nicht einmal mehr »Herr« ihrer eigenen Interessen.

 

So gingen denn auch einige Fragen des ansonsten sicher und eloquent durch den Abend führenden Alex Rühle knapp an den wirklich interessanten Problemstellungen vorbei. Es ist zwar löblich, dass er an diesem Abend nicht nur politische, sondern auch ganz persönliche Themen adressierte. Doch wäre etwa zu wünschen gewesen, dass man bei der Frage nach der Reaktion beider Mütter auf die Bücher mehr darauf abgezielt hätte, wie sehr sich die Beziehung zwischen Müttern und Söhnen und damit die ganze Familienstruktur verändert hatte, anstatt nur staunend bei der Scham der Mutter über die eigene Armut stehenzubleiben. Entstanden etwa durch den zeitlich-räumlichen Abstand und den offenen Umgang mit der eigenen Biographie, wenn auch spät, sogar innerhalb der Familie solidarische Räume, wie sie Eribon und Louis erst in ihrem »anderen« Leben kennenlernten – aktuell etwa in ihrem literarisch-politischen Triumvirat zusammen mit Geoffroy de Lagasnerie? Gerade auch als der Umstand zur Sprache kam, dass beide nun auf der Bühne der Kammerspiele säßen und ein durchaus erfolgreiches Leben führten, hätte man nicht danach fragen müssen, ob dies nicht Beweis genug für die Durchlässigkeit des aktuellen Bildungssystems sei – ein Allgemeinplatz –, sondern vielmehr danach, ob man sich als Linke*r diesem Erfolg nicht entziehen und verweigern müsse, um nicht einen – in diesem Kontext häufig beschworenen – Verrat zu begehen? Immerhin müssen der Wissenschafts- wie auch der Literaturbetrieb, in dem sich beide bewegen und etabliert haben, in der heutigen Form zu einem nicht unerheblichen Teil als Instrumentarien zur Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse angesehen werden.

 

So blieb es am Ende bei einem »unterhaltsamen« Abend, an dem man durchaus viel Scharfsinniges und Denkenswertes hörte, aber als Kenner der Werke von Eribon und Louis eben auch nur wenig Neues erfuhr. Immerhin wurde aber indirekt deutlich, dass eine echte »neue Linke« die Menschen beteiligen und nicht allein »mitnehmen« muss, wie es immer so schön heißt. Dazu wäre es zu wünschen, dass Gesprächsabende wie dieser in Zukunft in größerer und offenerer Runde stattfinden, wo dann auch diejenigen miteinbezogen werden, um die es im Grunde geht. Hierzu bedarf es allerdings erst des »Wunders« – als welches an diesem Abend Eribon seinen eigenen sozialen Aufstieg als auch den von Louis bezeichnete –, dass es eine*r »von unten« zumindest zum Journalisten/zur Journalistin der SZ und damit dem/der Moderator*in eines solchen Abends bringt. Aktuell reicht es in unserer Gesellschaft aber noch nicht einmal dazu.

 

 

Eduard Meusel ist ehrenamtlicher Sprecher der Fachgruppe Hochschule und Forschung der GEW Bayern und arbeitet als historischer Sprachwissenschaftler an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Zum Thema Hochschulpolitik schreibt er regelmäßig für die Mitgliederzeitschrift der GEW Bayern (https://www.gew-bayern.de/mitgliederzeitschrift-dds/), zuletzt zu Mitbestimmungsstrukturen an den Hochschulen.