Die Bildung der Volksrepubliken in der Ostukraine, die Abspaltung der Krim und die Unabhängigkeitsreferenden in Kurdistan-Irak und Katalonien haben deutlich gemacht, welchen Sprengstoff ungelöste nationale Fragen bis heute enthalten. Auch unter Linken haben diese Ereignisse zu heftigen Debatten geführt. Hier lohnt sich – nicht nur aufgrund des 100. Jahrestages der sozialistischen Oktoberrevolution, die zugleich eine Revolution zur Befreiung der vom Zarismus unterdrückten Völker war – ein Blick auf Lenins Herangehensweise an das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Lenins fundamentale Grundlage war dabei stets ein unabhängiger Klassenstandpunkt der Arbeiterbewegung. Sein Ziel war es, die internationale Einheit der Unterdrückten im Kampf herzustellen und schließlich durch den Sozialismus an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung aller Nationen zu einer höheren Einheit zu erreichen. Lenins mit seinen »Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage« 1913 auf Russisch formuliertes Programm (»Kritičeskije zametki po nacional'nomu voprosu«, veröffentlicht 1913 in der Zeitschrift Prosweschtschenije Nr. 10, 11 und 12. Unterschrift: W. Jljin. Nach: Lenin Werke Band 20, Berlin 1961) ist in erster Linie ein negatives. Denn es richtet sich gegen nationale Unterdrückung und Entrechtung, aber auch gegen Privilegien für einzelne Nationen. »Jedes feudale Joch, jede nationale Unterdrückung, jedwede Privilegien einer der Nationen oder Sprachen abzuschütteln ist die unbedingte Pflicht des Proletariats als einer demokratischen Kraft, ist das unbedingte Interesse des proletarischen Klassenkampfes, der durch den nationalen Hader verdunkelt und gehemmt wird.« Doch zugleich warnte Lenin: »Den bürgerlichen Nationalismus über diese streng gezogenen, durch einen bestimmten historischen Rahmen gegebenen Grenzen hinaus zu fördern, heißt das Proletariat verraten und sich auf die Seite der Bourgeoisie schlagen.« Dabei drohe die Gefahr einer »Vernebelung des proletarischen Klassenbewusstseins durch die bürgerliche Ideologie«.
Dabei unterschied Lenin sorgfältig zwischen dem Nationalismus der Unterdrückernationen und demjenigen der unterdrückten Nationen. Während er ersten in Bausch und Bogen als grundsätzlich reaktionär verdammte, weil er auf die Beibehaltung und Ausweitung von Privilegien über andere Völkern zielte, erkannte er in nationalen Bewegungen der unterdrückten und kolonial ausgebeuteten Völker fortschrittliche Elemente. Dies sei der Fall, wenn die Massen gegen jede nationale Unterdrückung für die Souveränität des Volkes und der Nation kämpfen. Hier sei es die »unbedingte Pflicht« der Marxisten, »auf allen Teilgebieten der nationalen Frage den entschiedensten und konsequentesten Demokratismus zu verfechten«. Weiter aber dürfe das Proletariat in der Unterstützung des Nationalismus nicht gehen, »denn dann beginnt die ›positive‹ (bejahende) Tätigkeit der nach Stärkung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie«.
Das Eintreten für nationale Selbstbestimmung bedeutete für Lenin zwar immer das Recht einer unterdrückten Nation, einen eigenen Staat zu bilden, doch hieß dies keineswegs, dass die Sozialisten und Arbeiter einer unterdrückten Nation in jedem Fall für die Unabhängigkeit zu stimmen hatten. Es ging ihm vielmehr darum, dass die Menschen frei und demokratisch entscheiden sollten, gerade damit nicht der Klassenkampf im Nebel einer imaginären Volksgemeinschaft gegen die Unterdrückernation hinten angestellt wurde. Aufgabe der Sozialisten der unterdrückenden Nationen sei es von daher, »die Freiheit der Absonderung für die unterdrückten Nationen« zu fordern, da andernfalls der Ruf nach Gleichberechtigung und internationaler Solidarität zur hohlen Phrase verkäme. Die Sozialisten der unterdrückten Nationen aber »müssen die Forderung nach Einheit und Verschmelzung der Arbeiter der unterdrückten Nationen mit den Arbeitern der unterdrückenden Nation als Hauptsache betrachten«, weil sie sonst zu unwillkürlichen Verbündeten der jeweiligen nationalen Bourgeoisie werden würden, die ihrerseits die Interessen des Volkes und der Demokratie verrät und bereit ist, andere Nationen zu unterdrücken.
Rosa Luxemburg beklagte gegenüber Lenin, das Programm der Bolschewiki laufe auf die Unterstützung bürgerlich-nationalistischer Kräfte hinaus. Die Bildung neuer Staaten sei ein gesellschaftlicher und ökonomischer Rückschritt. Da sie als Mitglied der polnischen Sozialdemokratie diese Position auch bezüglich des vom Zarismus unterdrückten Polen einnahm, warf ihr Lenin vor, hinter einer abstrakten Beschwörung des Sozialismus faktisch dem großrussischen Chauvinismus das Wort zu reden. Denn Lenins Position zielte mitnichten auf Kleinstaaterei, sondern im Gegenteil darauf, die Arbeiter und Bauern aller Nationalitäten auf freiwilliger Grundlage für den revolutionären Sturz des Zarismus zu vereinen. Bereits in ihrem zweiten Dekret »an die Völker Russlands« unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 verkündete die Sowjetregierung das Selbstbestimmungsrecht der Völker Russlands »bis zur Lostrennung und Bildung eines selbstständigen Staates«. Auf dieser Grundlage erlangte Finnland nach 100 Jahren unter zaristischer Vorherrschaft im Dezember 1917 seine Unabhängigkeit. Im Falle der Ukraine war die Gewährung der Unabhängigkeit die Voraussetzung dafür, dass die ukrainischen Bolschewiki das Vertrauen der Massen gewinnen konnten, so dass sich die Sowjetukraine dann freiwillig an Sowjetrussland anschließen konnte.
Lenin hatte allerdings keinen Hehl daraus gemacht, dass grundsätzlich die Interessen der internationalen Revolution über dem Selbstbestimmungsrecht stehen. Im Bürgerkrieg stellten die Bolschewiki vor dem Hintergrund der Verteidigung des russischen Arbeiterstaates gegen die Weißen den unter den Bajonetten der Roten Armee vorangetriebenen Aufbau der Sowjetmacht in Georgien über das Prinzip der Selbstbestimmung. Doch als Stalin, obwohl selbst Georgier, nach dem Ende des Bürgerkrieges den Wunsch der Kaukasusrepublik nach einem Mindestmaß an Selbstbestimmung in großrussischer Überheblichkeit zurückwies, warf ihm Lenin in seinem im Dezember 1922 verfassten Testament Grobheit vor und forderte sogar die Ablösung des Generalsekretärs.
Lenin verstand die internationale Revolution als kombinierte Aktion. »Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben, heißt der sozialen Revolution zu entsagen«, kritisierte Lenin anlässlich des irischen Osteraufstandes 1916 diejenigen britischen Sozialisten, die sich nicht mit diesem Aufstand gegen das britische Joch in Dublin solidarisieren wollten, weil er primär nationale Forderungen beinhaltete. »Wer eine ›reine‹ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben«, schrieb Lenin diesen Sozialisten ins Stammbuch. Entsprechend erweiterte die Kommunistische Internationale den Schlussappell des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels zur Losung: »Proletarier und unterdrückte Völker – vereinigt euch!«
Heute auf Kurdistan oder Katalonien angewandt bedeutet die Lenin‘sche Methode in der nationalen Frage, dass Linke, vor allem Linke der jeweiligen Unterdrückernation, für das grundsätzliche Recht auf Selbstbestimmung und die Abhaltung von Referenden einzutreten haben. Ob es aus einer emanzipatorischen Perspektive im Einzelfall sinnvoll ist, dann tatsächlich für die Unabhängigkeit einzutreten, ist eine ganz andere Frage, die sich aber die Linken in Kurdistan und Katalonien zu stellen haben. Selbstverständlich geht es der katalanischen Bourgeoise hinter allen patriotischen Floskeln in erster Linie darum, weniger Gelder an den spanischen Zentralstaat abzuführen, während der Barzani-Clan gerne ungestört die kurdischen Ölreichtümer ausplündern will. Ob ein Kleinstaat Katalonien tatsächlich wirtschaftlich sinnvoll wäre und ob in einem unabhängigen Kurdistan die Masse der Bevölkerung freier als jetzt leben würde, kann in Frage gestellt werden. Doch diese Sorge muss den betroffenen Völkern überlassen bleiben.
Das brutale Vorgehen der spanischen Guardia Civil gegen die Abhaltung des Referendums sowie nationalistische Aufmärsche, auf denen der Gruß der Franco-Faschisten gezeigt wird, sind keinesfalls dazu angetan, die Katalanen für ein weiteres Zusammenleben im spanischen Staat zu begeistern. Vielmehr werden auch Kritiker einer Unabhängigkeit, die vor dem Referendum wohl noch in der Mehrheit waren, so in die Arme der Unabhängigkeitsbefürworter getrieben. Auch die mit militaristischem Säbelrasseln verbundenen chauvinistischen Drohungen aus Bagdad, Erbil und Teheran anlässlich des Kurdistan-Referendums werden den Unabhängigkeitswillen der Kurden eher noch weiter verstärken.
Dass es durchaus Alternativen zur Befreiung in einen Nationalstaat gibt, beweisen derzeit die Kurden im Norden Syriens mit ihrer auf demokratischen Kommunen basierenden Föderation, die auch die anderen in der Region lebenden Völker wie Araber, Assyrer und Turkmenen gleichberechtigt einschließt. Die Entscheidung, wie und in welcher staatlichen oder nichtstaatlichen Form sie mit anderen Völkern zusammenleben wollen, muss aber letztlich bei den unterdrückten Nationen liegen.