Der Duden ist nach eigener Werbung »Die Instanz für alle Fragen zur deutschen Sprache und Rechtschreibung und bietet Wörterbücher, Lernhilfen und Ratgeber.« Und in der Tat, sucht der Wissbegierige nach der Bedeutung des Wortes »germanisieren«, wird er fündig. Nicht immer befriedigt die gegebene Erläuterung den Wissensdurst. Im vorliegenden Fall wird mitgeteilt, dass es sich um »eindeutschen« handelt, also andere »zu Germanen machen«, »der Sprache und Kultur der Germanen an(zu)gleichen« oder auch »(von deutscher Seite) zu annektieren«. »Amerikanisieren« bedeutet laut dieser Instanz »mit typisch US-amerikanischen Eigenschaften ausstatten« sowie »(Wirtschaft) (einen Betrieb, eine Firma) mit US-amerikanischem Kapital ausstatten, unter US-amerikanische Leitung stellen«. Für das Wort »russifizieren« wird nur eine kurze Erläuterung gegeben: »An die Sprache, die Sitten und das Wesen der Russen angleichen.« (www.duden.de/suchen/dudenonline)
»Ukrainisieren« kennt der Duden nicht. Wenn er im Internet befragt wird, gibt er eine abschlägige Antwort: »Leider haben wir zu Ihrer Suche nach ›Ukrainisieren‹ keine Treffer gefunden.« Auch die Frage nach dem Substantiv »Ukrainisierung« führt nicht zum gewünschten Ergebnis. Seltsam! Denn in Kiew und in der ganzen Ukraine ist die »Ukrainisierung« seit längerem im vollsten Gange.
Ein erster Höhepunkt war die Unterzeichnung von mehreren Gesetzen zur »Dekommunisierung« durch Präsident Petro Poroschenko im Mai 2015. Ihr Hauptziel war das Verbot jeglicher kommunistischer Symbole und all dessen, was an die frühere Zugehörigkeit des Landes zur Sowjetunion erinnerte. Die »Dekommunisierung«, auch »Entkommunisierung« genannt, trieb fortan seltsame Blüten (s. Ossietzky 13/2016).
Tausende Orte wurden umbenannt, weil ihre Namen an sowjetische Wissenschaftler oder Militärs erinnerten. Rundfunksender mussten nach einem neuen Gesetz mindestens ein Viertel aller Lieder in ukrainischer Sprache senden. Die Hälfte aller Beiträge sollte auf Ukrainisch ausgestrahlt werden. 430 russische Filme und Fernsehserien wurden verboten. 83 russische und mehrere ausländische Schauspieler wie Gerard Depardieu kamen auf eine schwarze Liste, weil sie angeblich eine »Gefahr für die nationale Sicherheit der Ukraine« darstellen und sich »nicht richtig« über die Krim und den Krieg in der Ost-Ukraine äußern würden.
Verboten wurden die KP der Ukraine, die kommunistische Ideologie sowie alle kommunistischen Symbole, einschließlich der Fahnen ehemaliger kommunistischer Staaten, darunter auch die der DDR, und alle Darstellungen von Hammer und Sichel. Namen von Straßen, Plätzen, Parks, die an sowjetische oder kommunistische Personen erinnerten, mussten ausgemerzt werden. In Vergessenheit gebracht werden sollten nicht nur Personen wie Lenin, Molotow, Stalin, Breschnew, sondern auch Karl Marx und Friedrich Engels, Ernst Thälmann und Rosa Luxemburg. Umbenannt wurden auch zwei Eichen. Die eine war nach einem Partisanen, der gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatte, benannt, sie heißt jetzt »König«; die andere trug den Namen des russischen Zaren »Peter der Große«, nun heißt sie »der Riese«. Ein ukrainisches Internetportal berichtete darüber unter der Schlagzeile: »Zwei Eichen in Ternopil tragen jetzt nichtkommunistische ›Namen‹.«
Das ukrainische Infrastrukturministerium wies einheimische Flughäfen an, auf die Verwendung der russischen Sprache zu verzichten. Die Airports dürfen nur noch ukrainische und englische Namen verwenden. Zeitgleich mussten auch auf Bahnhöfen Informationstafeln und Aushänge sowie Fahrkarten in russischer Sprache verschwinden und durch solche auf Ukrainisch und Englisch ersetzt werden. Über 1.000 Ortschaften, die irgendeinen Bezug zu Russland oder zur sowjetischen Vergangenheit hatten, wurden umbenannt, selbst solche auf der Krim.
Im September erreichte die Ukrainisierung eine weitere, eine höhere Stufe. In Kraft gesetzt wurde ein neues Sprachgesetz, das »Bildungsgesetz« heißt. Es sieht die stufenweise Beseitigung des Unterrichts in Sprachen sogenannter nationaler Minderheiten, darunter der Ungarn, Polen und Rumänen, zugunsten des Ukrainischen vor. Nicht genanntes, aber tatsächliches Hauptziel ist es, die russische Sprache aus der Schulbildung zu verdrängen.
Nahezu für alle Einwohner der Ukraine ist Russisch Mutter- oder zumindest Zweitsprache, ganz abgesehen davon, dass rund ein Fünftel der ukrainischen Staatsbürger Russen sind. Selbst in den ukrainischen Streitkräften und in den sogenannten Freiwilligen-Bataillonen ist Russisch die Hauptsprache. Dieses Übel soll nun mit der Wurzel ausgerissen werden. Gemäß dem neuen Gesetz sollen ab 1. September des kommenden Jahres alle russischsprachigen, polnischen und andere »fremdsprachigen« Schulen in der Ukraine geschlossen werden. In der Grundschule darf nur noch bis 2020 in den Sprachen der nationalen Minderheiten unterrichtet werden. Ab dann soll in allen Schulen der Unterricht ausschließlich auf Ukrainisch erfolgen.
Wie nicht anders zu erwarten stieß das neue Gesetz im Kreml auf energischen Protest. Es sei dazu gedacht, »in einem Vielvölkerstaat gewaltsam ein monoethnisches Sprachregime« einzuführen, erklärte das russische Außenministerium schon Anfang September. Und nach der Unterzeichnung des Gesetzes durch Poroschenko mischte sich Außenminister Sergej Lawrow in die zutiefst inneren Angelegenheiten des Nachbarlandes ein und stellte fest: »Wir betrachten diesen Schritt als Versuch der Maidan-Behörden, eine vollständige Ukrainisierung des Bildungsraums des Landes zu vollziehen, was sowohl ihrer Verfassung, als auch der von Kiew übernommenen internationalen Verpflichtungen im humanitären Bereich widerspricht.« Und seine Sprecherin, Maria Sacharowa, bewertete Kiews Kurs als »Sprachgenozid«.
In der Ablehnung des Kiewer »Bildungsgesetzes« steht Russland nicht allein da. Ungarns Außenminister Péter Szijjártó erklärte, die Ukraine habe seinem Land »in den Rücken gestochen«, und der rumänische Präsident Klaus Werner Johannis sagte umgehend sowohl seinen Besuch in Kiew als auch Poroschenkos geplanten Gegenbesuch ab.
Im Gegensatz dazu wird der Kurs der gegenwärtigen Kiewer Führung auf eine vollständige Ukrainisierung des multinationalen Landes in der ach so demokratischen Bundesrepublik mit Wohlwollen oder zumindest mit Schweigen betrachtet. Bereits 2014 meinte die Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung, es gebe Anzeichen dafür, dass die Ukraine unter dem Druck der Bedrohung einheitlicher und ukrainischer wird. Die Bundeskanzlerin ging einen Schritt weiter. Als sie Poroschenko im Januar 2017 in Berlin empfing, lobte sie ausdrücklich die Reformpolitik der ukrainischen Führung, natürlich meinte sie lediglich die auf wirtschaftlichem Gebiet. Doch der ukrainische Gast hatte sie gut verstanden. Als er im Mai mit ihr in Meseberg erneut zusammentraf, bedankte er sich überschwänglich bei der Bundeskanzlerin »für die Unterstützung der inneren Reformen innerhalb der Ukraine« und fügte in aller Bescheidenheit hinzu: »Die Reformen in den vergangenen drei Jahren haben viel mehr gebracht als in den 23 Jahren davor seit unserer Unabhängigkeit.«
Fazit: Hier kann nur Shakespeares Hamlet helfen: »Wenn‘s auch Wahnsinn ist, so hat es doch Methode.« Und zum Schluss ein Appell an den Dudenverlag: Nehmen Sie das Verb »ukrainisieren« in Ihre Standardwerke auf, es hat es wahrlich verdient.