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Titel2017

Daniil Granins »Abschiedsgeschenk«  (Leonhard Kossuth)

Da es auch um Liebe geht, wollen wir SIE, die Magda, gleich kennenlernen – Nichte des deutschen Atomphysikers Gerhard Steinberg, die an einem Text über Albert Speer arbeitet und ein von Komplexen belastetes Produkt der Vergewaltigung durch einen russischen Leutnant ist, der sich in die britische Zone abgesetzt hat. Auf einem Essen zum Firmenjubiläum von Siemens ist sie Tischdame von Anton, als russischer Energetiker zu Verhandlungen in Berlin. Mit dieser Konstellation eröffnet Granin sofort seine Sicht auf zentrale Konflikte der Epoche – vom Wettlauf Deutschlands, der USA und der UdSSR um die Schaffung der Atombombe bis zum Vergleich der Lebensweise in Deutschland und der Sowjetunion, während die Liebesgeschichte zwischen den beiden, bis in Liebeslüste gesteigert, dennoch mit einem Patt endet.

 

Beinahe als Ohrenzeugen eines Gesprächs zwischen Anton und Steinberg erfahren wir, dass deutsche Atomphysiker ihr Wissen inzwischen bei den Russen einbringen (zum Beispiel Steinberg) oder bei den US-Amerikanern (Heisenberg). Nun, nach dem Sieg über das faschistische Deutschland, interessiert doch die Gewissensfrage, wie die Atomphysiker dazu standen, an dieser Menschheitsvernichtungswaffe mitzuarbeiten. Kann ein Genie an solch teuflischer Forschung teilnehmen, oder hat manchen »nur« die Lösung wissenschaftlicher Probleme verlockt? Und der Sieg der Sowjetunion, war er vielleicht schicksalhaft?

 

Alles Fragen, die sich zwischen Anton und Magda aus deren Engagiertheit für »geniale« architektonische Pläne (»Welthauptstadt Berlin«) von Albert Speer im Auftrag von Hitler ergaben, den Speer schätzte, wie er umgekehrt von Hitler geachtet wurde. Auch wenn Speer sich beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als einziger zu Mitverantwortung bekannte – charakteristisch sein Abschiedsbesuch vor Hitlers Selbstmord. Anton bietet sogar Dostojewskis Raskolnikow auf, der seinen Mord an der alten Wucherin bis zuletzt nicht bereut. Seine beispielhafte Information über Klaus Fuchs will sie gar nicht erst hören.

 

Und was ist mit Stalin? Magdas Petersburger Besuch als Betreuerin des Malers Heinrich Radlitz lässt Magda nicht nur den Zauber von Peterhof erleben, aber: »Warum hat Petersburg [damals Leningrad] nicht kapituliert wie andere europäische Städte?« (Übersetzung dieses und der folgenden Zitate: L. K.) Vieles erfuhr sie von Maria Genrichowna, die selbst in Verbannung gewesen war: Über die Verfolgung von Leningrader Funktionären und Ehefrauen solcher Politiker wie Molotow, Kalinin, Bucharin wegen »Leningrader Angelegenheiten«, hinter denen sich von Shdanow ausgelöste Eifersüchteleien um beanspruchte Verdienste von Stalin verbargen.

 

St. Petersburg führt schließlich auch, befördert durch einen Regenguss, Magda und Anton auf der sich zwischen den beiden längst anbahnenden Annäherung durchnässt in Antons Wohnung zum Ziel. Granins Beschreibung ihrer Liebesfreuden wird innerhalb der russischen Literatur einen vorderen Platz einnehmen. Sie besuchen noch die Stadt Puschkin, das »Zarskoje Selo«, in dem Alexander Puschkin einst das Lyzeum besuchte. Dann aber ist Magdas Abreisetag da. Das Resümee ihrer Beziehung im Dialog: Im Grunde erkennen beide, dass sie im Lande des jeweils anderen nicht leben wollen.

 

Die Verabschiedung voneinander auf dem Flughafen und Antons darauf folgendes Gespräch mit zwei Tischnachbarn – einem Miliz-Hauptmann und einem Abgeordneten – enden damit, dass die Tischnachbarn den trunkenen Anton in seine Wohnung bringen. Fast beginnt hier ein zweiter Teil des Romans.

 

In die Erinnerungen an Magda mengt sich Anton eine neue Aufgabe: auf einer Konferenz die Sektion kleiner Wasserkraftwerke zu leiten, was ihn an die Materialsammlung für seine Diplomarbeit in Stawropol erinnert, wo das gewaltige Kuibyschewer Wasserkraftwerk entstand. Dort entdeckte er zufällig seine Klassenkameradin Vika Kogan: Ins Zuchthaus geraten, wurde sie mit anderen zu schweren Erdarbeiten unter bewaffneter Bewachung verpflichtet. (»Da werden wir einen entsprechenden Kommunismus bekommen«, hatte er damals geurteilt.)

 

Vor dem Hintergrund derartiger Erinnerungen an das »Bauwerk des Kommunismus« setzte sich Anton in seiner Rede auf der Konferenz dafür ein, angesichts des Strommangels im eigenen Land, Europas Beispiel folgend, viel mehr Energie durch Windräder und Sonnenkollektoren zu gewinnen. Das widerspricht den Erwartungen der Obrigkeit, und so findet sich für eine Publikation seines Redetextes nach Absagen zentraler Zeitungen eine Möglichkeit nur bei einer kleinen Zeitschrift in Karelien. (War das vielleicht dieselbe Sewer-Nord – wo Granins kritische Erzählung »Unser Bataillonskommandeur« 1968 erschien, (deutsch im Volk-und-Welt-Spektrum 1970?)

 

Natürlich spielen auch für Antons weiteres Schicksal Frauen eine Rolle, und wiederum: Der Roman wäre nicht von Granin, wenn sie Anton nicht veranlassen würden, über sie nachzudenken – ob Jelisa, ob Asa. Vielleicht sind sie sogar an seinen Träumen vom freien persönlichen Leben beteiligt, zumal die mit Kritik bedachten Obrigkeiten selbst nur an ihre persönlichen Interessen denken: »Elegante Häuser, Jachten, Flugzeuge; alles Super-Luxus.« – »Was für ein Land haben sie zugrunde gerichtet!« Für Anton wäre das »Skifahren, Philharmonie. Endlich Zeit finden für die gesammelten Werke von Dickens, Gontscharow …«

 

Da bekommt er plötzlich von dem aus Moskau angereisten Chef das Angebot, die Leitung der innerhalb von Machtkämpfen »da oben« durchgesetzten Windräder-Produktion zu übernehmen. Sogar sein Chef agitiert ihn: Es sind Persönlichkeiten, die Geschichte machen. (»Bahnbrecher« hieß deutsch Granins erster auch die DDR bewegender Roman.) Aber ungeachtet der Möglichkeit, von ihm selbst propagierte Ziele zu verwirklichen, lehnt Anton ab – er will sich um sein Privatleben kümmern, vielleicht sogar heiraten.

 

Das ist schon fast ein satirischer Schluss. Setzt Granin auf die Klugheit des Lesers, der nach dem Sturz des Sowjetsystems durch Jelzin auch im Privaten kluge gesellschaftspolitische Voraussetzungen nicht übersieht? Hat sein Anton nicht sogar bei Magda erreicht, dass sie – wie sie ihn durch eine Grußkarte ahnen lässt – »Russland nicht liebt und sich doch danach sehnt«? An denkende Leser wendet sich Granin mit seinem letzten, lebenslangen Recherchen gewidmeten, fesselnden Roman.

 

Даниил Гранин: »ОНА и все остальное« (»SIE und alles andere«). Москва, Санкт-Петербург, 2017. Im Gedenken an den unvergesslichen Autor und guten Freund. – Leonhard Kossuth.