Ein verzweifelter Brief von der Insel Sylt, dem Zufluchtsort, an die Freundin – im Dezember 1933: »Jetzt leben wir nicht mehr im Zeitalter der Qualität und der Fähigkeit, sondern in dem der (jüdischen) Großmutter, trotz aller bis zum Ekel propagierten Jugend.« Zuflucht aber bot diese Insel nicht, es war ein Verkriechen. »Ich kann mich in so einer Welt nie mehr zurechtfinden und habe keinen einzigen anderen Wunsch, als sie, auf die ich nicht mehr gehöre, zu verlassen.« Anita Rée, der in Hamburg geborenen Künstlerin, ist jetzt in der dortigen Kunsthalle (bis zum 4. Februar 2018) eine Retrospektive gewidmet. Kuratorin Karin Schick will sie nicht »als Opfer verstehen«, sondern nur als Künstlerin. Sie wolle zeigen, wie sich Anita Rée im Kunstbetrieb durchgesetzt habe trotz aller Anfeindungen. Dass die Künstlerin – seit der Gründung 1919 Mitglied der Hamburgischen Sezession – einen Auftrag für ein Altartriptychon für die neue evangelische Kirche in Langenhorn erhält, lässt die Schriftleitung der Hansischen Warte Heiligabend 1930 nicht ruhen. Sie ist doch Jüdin? Die Kirchenleitung teilt entschuldigend mit, dass »Frl. Rée evangelisch-lutherisch getauft sei, ihre in Venezuela geborene Mutter ebenfalls«. Antwort: Nicht das Glaubensbekenntnis, sondern die »Rasse, also das Volkstum«, ist maßgebend. Das soll ohne Einfluss auf die Künstlerin geblieben sein? Das Altarbild entstand unter Änderungen. So störte der Bart der Christusfigur: zu fremd? Das Gemälde wurde nie gezeigt und verbrannte 1943 bei der Operation Gomorrha. Da hatte Anita Rée ihre Ankündigung schon wahr gemacht und sich am 12. Dezember 1933 mit 48 Jahren das Leben genommen – einsam und sich verlassen fühlend auf dieser deutschen Insel.
Anita Rée, aus einer wohlsituierten Kaufmannsfamilie stammend, hatte einen großen Bekanntenkreis. Auch der damalige Direktor der Kunsthalle, Gustav Pauli, förderte sie und kaufte Bilder. 1933 wurde er aus dem Amt entlassen. Die Künstlervereinigung Hamburger Sezession löste sich im Mai 1933 selbst auf, nachdem ihre 12. Ausstellung im März polizeilich geschlossen worden war. Der Einfluss Max Warburgs und seiner berühmten Bibliothek, die Rée oft benutzte – 1933 war das zu Ende. Genau zu der Zeit, als Anita Rée aus dem Leben schied, waren die Bücher Warburgs in zwei Frachtschiffen unterwegs nach England. Er war schon 1929 gestorben.
Angefangen hat Anita Rée 1904 bei dem Impressionisten Arthur Siebelist in Hittfeld bei Hamburg. Dort lernt sie Friedrich Ahlers-Hestermann wie auch Franz Nölken kennen, mit dem sie später zusammen arbeitet. In den Jahren 1912/13 verbringt sie einige Zeit in Paris, trifft dort Carl Einstein, den Kunstkritiker, mit dem sie Museen besucht. Paul Cézanne fesselt sie und die Maler der Frührenaissance. In Hamburg wohnt sie wieder bei den Eltern, zeichnet Kinder und Jugendliche. Es entsteht 1918 das Gemälde eines kranken Mädchens – zu dieser Zeit grassiert die Grippe. Das Kind sitzt, in einen Umhang gehüllt, mit starrem Ausdruck auf einem Küchenstuhl. Außerdem drei Porträts von Agnes, dem Dienstmädchen, schon 1913 entstanden, im Dachatelier des elterlichen Hauses. Ein sehr zartes, feines Gesicht. Von der Hausangestellten Bertha gibt es 1926 viele Bildnisse, in Kohle, als Aquarell und in Öl. Als Mädchen mit Silberdistel »Distelnonne«, die mit braunen Mandelaugen lockt, ihr weißes Tuch verhüllt das Haar. Ein Raum der Kunsthalle ist den Selbstporträts vorbehalten. Ganz früh schon, 1904, ist Anita Rées Eigensinn zu erkennen. Ich sehe sie nie lächeln. Der Ausdruck zeigt Skepsis, Entschlossenheit, aber auch Unsicherheit – verschlossen und offen gleichzeitig. Ihr berühmtes Gemälde (1930), auf dem Cover des Katalogs (Prestel Verlag, 245 Seiten, 29 Euro) wirkt rätselhaft, fragend, die Hand in der Geste der Melancholie das Gesicht berührend. Sie kannte wohl die Studien von Erwin Panofsky, der in Hamburg lehrte, über Dürers »Melencolia«. Anita Rée orientierte sich an der Frührenaissance, ohne sie zu kopieren. Die Bäuerin Lionarda (1921) aus Tirol, wohin Rée kurz reiste – ein sanftes Gesicht mit leicht verschmitztem Lächeln, nichts Derbes. Der Süden war die Sehnsucht der Anita Rée: Italien. Drei Jahre lebt sie in Positano, von 1922 bis 1925, und auf Kurzreisen besucht sie Assisi, Florenz, Ravenna, wohl auch Neapel und Rom. Ihr Stil ändert sich. Es entstehen fast menschenleere Stadtlandschaften mit Bäumen wie Gerippe. Wichtig war ihr das Gemälde »Weiße Nussbäume« (oder weiße Bäume). Häuser, weiß, mit flachen Kuppeln. Treppen und Leitern, die ins Nichts führen. Fahlweiß-kahle Bäume strecken ihre Zweige wie Knochen in die Luft. Die Stimmung ist surreal.
Sie möchte nie zurück nach Deutschland, schrieb Rée noch 1923. Ende 1925 kehrte sie doch zurück. Es gibt ein pittoreskes Bild von ihr, eine italienische Straßenszene, mit Eselskarren. Nur: an einer Mauer geschmiert, Graffiti: »Evviva! Mussolini!« 1925 begann sein Einfluss. In Hamburg wurden die neuen Bilder in der Galerie Commeter mit großem Erfolg gezeigt. Gustav Pauli erwarb das Gemälde »Teresina«, farblich wunderbar ausgewogen, das junge Mädchen mit Zitronen in den Händen vor Bananenstauden. Die »Nussbäume« wurden von Aby Warburg hoch gelobt. Doch als Anita Rée dieses Bild neben zwei anderen für die Ausstellung »Hamburger Kunst« 1927 einsandte, lehnte die Jury es ab. Ausgerechnet Rées früherer Freund Ahlers-Hestermann attestierte dem Bild: »affektierte, altmeisterliche Härte«. Dieses Urteil trieb Rée aus der Sezession und führte zum Bruch mit den Kollegen. Das Bild zeigte sie nie wieder.
Anita Rées Stil ist nicht einfach zu bestimmen – vielleicht dem Neuen Realismus nahe. Sie experimentierte mit Material, mischte Bronzepulver in die letzte Schicht, um einen Hauch von Gold zu erzeugen. Mutter-und-Kind-Darstellungen – sogar ohne das Kind. Allein die Armhaltung suggeriert es. Selten porträtierte sie Männer. Sie wirken eher steif, gesetzt, wohlhabend. Carl Einstein macht eine Ausnahme. Sie zeichne »wie ein Kerl«, wurde lobend über sie geurteilt. Aber auch ganz anderen Themen wandte sie sich zu. In der Ausstellung sind mit Affen und Papageien bemalte Schränke zu sehen und wundersame Fabeltiere mit Blumenhaut, leuchtend blau und rot. Auch Marionetten entstanden für eine Benefizaufführung. Und Postkarten, phantasievoll bemalt, beklebt, mit Schrift verziert – für ein junges Paar.
Auf Sylt, wo sie kärglich lebte ohne Heizung im Winter, entdeckte sie die Dünen. Weich wie Körperformen. Aus allen Bildern, Aquarellen meist, spricht Einsamkeit. Die Schafe im Schnee finden nichts. – Eine Ausnahme: die beiden Bilder – wie Schnappschüsse – von Lotte Burk (Öl auf Pappe). Sie lacht so herzlich, ansteckend. Nicht für Anita Rée, die aus dem Leben verschwand wie später ihre Wandgemälde. Das erlebte sie nicht mehr. Auch nicht das Schicksal der »Weißen Nussbäume«. Nach dem Selbstmord erhielt die Freundin Frieda von der Porten das Bild, laut Testament. Wahrscheinlich ist sie die Adressatin des letzten Briefes von Sylt. Sie musste mit ihrem Mann Deutschland 1938 verlassen. Sie versuchten 1940 nach Frankreich zu fliehen. Als es nicht gelang, nahm sich das Paar das Leben. Das Bild war lange verschollen, ist erst kürzlich wieder in Hamburg aufgetaucht. Hier, in der Kunsthalle, ist es nun zu sehen.