Seit von der Digitalisierung als einem technologischen Quantensprung gesprochen wird, der die Arbeitswelt revolutioniert und in Kürze angeblich selbst Berufe wie Arzt, Apotheker oder Anwalt überflüssig macht, ist das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Durch diesen steuerfinanzierten Universaltransfer sollen alle Menschen ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Verpflichtung zur Erwerbsarbeit, wie sie im bestehenden Sozialstaat existieren, ein Leben in Würde führen können. BGE-Befürworter sehen darin eine Lösung für massive Arbeitsplatzverluste im Zuge der Digitalisierung und erwarten mehr individuelle Kreativität und gesellschaftliche Produktivität.
Der demografische Wandel und die Globalisierung fungieren seit der Jahrtausendwende als die beiden Großen Erzählungen unserer Zeit, die Neoliberale zur Rechtfertigung von Reformen nutzen, mit deren Hilfe sie den Sozialstaat im Allgemeinen und die Gesetzliche Rentenversicherung demontiert haben. »Digitalisierung« ist gleichfalls ein neoliberales Narrativ, weil den Menschen damit Angst vor dem Arbeitsplatz- und Einkommensverlust gemacht, von dem eigentlichen Zukunftsproblem der sozialen Polarisierung, des Zerfalls der Arbeitswelt in Billigarbeiter und Besserverdienende sowie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich abgelenkt wird. Prekarisierung, Lohnspreizung und Vermögenskonzentration bilden das Kardinalproblem der künftigen Gesellschaftsentwicklung, nicht digitale Transformation und Arbeitsplatzvernichtung.
Kommunismus im Kapitalismus?
In seiner 1846 erschienenen Frühschrift »Die deutsche Ideologie« prophezeite Marx, dass es im Kommunismus, also einer klassenlosen Gesellschaft ohne Privateigentum an den Produktionsmitteln, die nicht mehr den Kapitalisten, sondern allen gehören, möglich sei, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. (MEW 3, S. 33) Im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie beschrieb Marx 1859 den Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.« (MEW 13, S. 9) Noch einmal 16 Jahre später, in seiner 1875 verfassten »Kritik des Gothaer Programms«, wies Marx die deutschen Sozialdemokraten darauf hin, dass man sich erst »in einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft«, nachdem »die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« ebenso verschwunden sei wie »der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit«, das folgende Prinzip auf die Fahne schreiben könne: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, S. 21)
Wie es scheint, soll mit dem bedingungslosen Grundeinkommen der Kommunismus bereits heute Einzug halten, ohne dass der Finanzmarktkapitalismus verschwunden wäre. Ganz im Gegenteil: Nie war das Kapital mächtiger und weltbeherrschender als in der Gegenwart. Deshalb sollten die Forderungen bescheidener und weniger illusionär, dafür aber geeignet sein, die bestehenden Verteilungs-, Macht- und Mehrheitsverhältnisse schrittweise zu überwinden.
Gerechtigkeit für niemand
Das bedingungslose Grundeinkommen widerspricht allen gängigen Gerechtigkeitsvorstellungen. Weder sorgt es für Bedarfsgerechtigkeit noch für Leistungsgerechtigkeit, erst recht jedoch nicht für Verteilungsgerechtigkeit. Denn wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn das Mitglied einer Landkommune in Mecklenburg-Vorpommern ohne nennenswerte Wohnkosten denselben Geldbetrag erhält wie ein Single, der in München keine bezahlbare Mietwohnung findet? Und was ist mit einem Menschen, der darüber hinaus schwerstbehindert, also etwa blind ist? Ist es gerecht, dass es bei der Gewährung des Grundeinkommens überhaupt keine Rolle spielt, wie sehr sich ein Anspruchsberechtigter angestrengt und was er im Laufe seines Lebens geleistet hat? Und was ändert sich durch das Grundeinkommen an der Ungerechtigkeit einer seit Jahrzehnten bestehenden Verteilungsschieflage beim Vermögen, erhält ein Mittelloser doch nur so viel, dass er nicht hungern muss, aber keinen Cent mehr als ein Milliardär, der das Grundeinkommen überhaupt nicht braucht?
Bedingungslosigkeit und Bedarfsgerechtigkeit schließen einander aus. Da sich ein reiches Land wie die Bundesrepublik seiner Fürsorgepflicht jedem Einzelnen gegenüber nicht durch die Zahlung eines schon aus Kostengründen wahrscheinlich sehr niedrigen, in der Summe die staatliche Finanzkraft aber deutlich übersteigenden Pauschalbetrages entledigen darf, taugt das bedingungslose Grundeinkommen weder als Ersatz noch als sinnvolle Ergänzung des bestehenden Sozialstaates.
Das Ende des Sozialstaates, wie wir ihn kennen
Ausgerechnet die einflussreichsten BGE-Modelle laufen auf eine Zerschlagung des bestehenden Sozial(versicherungs)staates hinaus, der zumindest seinem Anspruch nach Bedarfsgerechtigkeit schafft, den Lebensstandard von Erwerbslosen halbwegs sichernde Lohnersatzleistungen bereitstellt und die Lebensleistung von Ruheständlern durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt. Dagegen sieht das Grundeinkommen von den konkreten Arbeits-, Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen seiner Bezieher ab. Es wird sämtlichen Bürgern in gleicher Höhe gezahlt – ganz egal, ob sie Spitzensportler oder schwerstbehindert, ob sie Villenbesitzer oder obdachlos, ob sie Multimilliardär, Müllwerker oder Multijobberin sind. Alle werden über einen Leisten geschlagen, was differenzierte Lösungen für soziale Probleme ausschließt und zutiefst ungerecht ist.
Wer auch in Zukunft gegen Standardlebensrisiken wie Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit oder Grundeinkommensarmut im Alter (wenn es nicht mehr durch Erwerbstätigkeit aufgestockt werden kann) geschützt sein will, muss teure Privatversicherungen abschließen, was zwar den Versicherungskonzernen, ihren Aktionären und Finanzmarktakteuren, aber nicht den Bedürftigen nützt, die heute noch sozialversichert sind.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist das von ihm und Kuno Rinke herausgegebene Buch »Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell« erschienen (Verlag Beltz Juventa, 260 Seiten, 19,95 €). Hingewiesen sei zudem auf den Artikel »BGE – Wundermittel oder Droge? (Ruth Becker/Eveline Linke) in Ossietzky 21/2017.