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Titel2018

Russland und das Völkerrecht  (Norman Paech)

Ende des Jahres 1979 marschierten die sowjetischen Truppen in Afghanistan ein, Präsident Babrak Karmal habe sie gerufen, hieß es damals. Dies wurde im Westen heftig bestritten, man sprach vom russischen Imperialismus, der an die warmen Ufer des indischen Ozeans vorstoßen wolle. Kurze Zeit später bekam ich von der Internationalen Vereinigung demokratischer Juristen (IVdJ) die Bitte, mich mit einer internationalen Untersuchungskommission nach Kabul zu begeben, um die Vorwürfe zu überprüfen. An der Delegation sollten zwei Rechtsanwältinnen aus Indien und Österreich, ein Staatsanwalt aus Belgien, ein Professor aus Frankreich, der Generalsekretär der IVdJ aus Algerien und als Leiter der Oberste Richter von Finnland, Helge Rontu, teilnehmen. Ich war seinerzeit der Vorsitzende der deutschen Sektion der IVDJ und hatte mich bei dem russischen Botschafter in Deutschland, Valentin Falin, vor der Reise über die Sachlage informiert. Falin hatte mir die sowjetische Version bestätigt, nach der Präsident Karmal die sowjetischen Truppen erbeten hatte, nachdem er kurz zuvor in Kabul aus der Tschechoslowakei eingetroffen sei.

 

Karmal war natürlich misstrauisch gegenüber dieser bunten Truppe und ließ uns tagelang in unserem Hotel warten. Unsere Kontakte nach außen waren spärlich, da das Land fremd und unsere sprachlichen Möglichkeiten eingeschränkt waren. Dennoch fanden wir keine Anzeichen dafür, dass die sowjetischen Angaben nicht stimmen sollten. Als Karmal uns schließlich empfing, bestätigte auch er die sowjetische Version, dass er als Präsident den Kreml um Hilfe gebeten habe. Warum sollten wir daran zweifeln? Nur Professor Fischer aus Paris, der einzige Politologe unter uns Juristinnen und Juristen, mochte sich unserem Ergebnis nicht anschließen. Er sollte Recht behalten. Erst Gorbatschow, der den Krieg unbedingt beenden wollte, gestand schließlich ein, dass die sowjetischen Truppen Karmal mitgebracht und als Präsidenten in Kabul installiert hatten. Die »freundschaftliche« Intervention war ein klarer Verstoß gegen die völkerrechtlich geschützte territoriale Integrität Afghanistans. Als ich Falin später, nach dem Untergang der Sowjetunion, fragte, warum er mir damals nicht die Wahrheit gesagt hatte, verwies er nur bedauernd auf seine damalige Stellung als Botschafter der Sowjetunion.

 

Mir hing die Geschichte jahrzehntelang an, ich korrigierte meinen Irrtum, aber wer liest schon Eingeständnisse und Berichtigungen, sie finden nie den gleichen Weg in die Presse. Die Intervention war defensiv gegen die USA und ihre Stoßtruppen der Mudschahedin gerichtet, aber völkerrechtswidrig. Die Sowjetunion wollte verhindern, dass die USA nach dem Verlust Persiens nun an ihrer Südgrenze, in Afghanistan, ihre Raketen aufstellen konnten. Ein weiterer gen Süden gerichteter Vorstoß zum Indischen Ozean war nie geplant, aber nützliche westliche Propaganda.

 

Und nun zur Krim.

 

Kein Ereignis hat das Völkerrecht derart ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gerückt wie die Trennung der Krim von der Ukraine und ihre Eingliederung in die Russische Föderation. So einschneidend der Vorgang für die geopolitische Landkarte des eurasischen Raumes auch ist, so friedlich war sein Verlauf – aber so heftig und unisono war seine Verurteilung. Plötzlich stand das Völkerrecht im Mittelpunkt und Russland am Pranger. Die Kritik kam ausgerechnet von der Seite, die sich mit ihren Kriegen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen schwerster Verstöße gegen das Völkerrecht mit verheerenden und blutigen Konsequenzen schuldig gemacht hatte und anhaltende Verletzungen des Völkerrechts wie die Besetzung Palästinas durch Israel seit Jahrzehnten duldet. Die Beschwörung des Völkerrechts ist derart nachdrücklich und intensiv, dass man den Eindruck gewinnen könnte, wir treten in eine neue Epoche der Außenpolitik unter dem Primat des Völkerrechts ein.

 

Man täusche sich allerdings nicht. Der Gegner ist Putin, der die Kritik beflügelt und weniger der ihm vorgeworfene Verstoß gegen das Völkerrecht.

 

 

Das Referendum auf der Krim

Es war zunächst die Bevölkerung auf der Krim, die nach den Protesten und Demonstrationen zur Jahreswende 2013/14 auf dem Maidan-Platz in Kiew die Trennung von der Ukraine und die »Rückkehr« nach Russland forderte. Sie hatte nämlich seit 1783, nach der Eroberung durch Katharina II. von den Türken, zu Russland gehört. Dort blieb die Krim fast 200 Jahre, bis Chruschtschow, selbst ukrainischer Herkunft, sie 1954 durch einen Beschluss des Obersten Sowjets der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik schenkte. Damals sprachen mehr als 70 Prozent der Bevölkerung russisch (heute 58 Prozent), nur jeweils etwa zehn Prozent sprachen ukrainisch oder tatarisch. Mit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 verblieb die Krim bei der neuen Republik. 1992 erhielt sie den Status einer »Autonomen Republik Krim« mit Simferopol als Hauptstadt, einer eigenen Verfassung im Jahr 1996, eigenem Parlament und eigener Regierung sowie weitgehenden Autonomierechten in der Verwaltung. 1997 stellten die Ukraine und Russland die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol vertraglich auf eine völkerrechtliche Basis und verlängerten den Vertrag 2010 bis 2042.

 

Nun wollte die russische Bevölkerung der Krim die Halbinsel wieder nach Russland zurückführen. Die Entwicklung in Kiew hatte immer mehr bürgerkriegsähnliche Formen angenommen und faschistoide, antirussische und antisemitische Kräfte an die Oberfläche gespült. Die Bindung an den Westen durch das Assoziationsabkommen trieb die Entfernung von Russland noch weiter, so dass der Wunsch nach Trennung und Unabhängigkeit konkrete politische Entscheidungen forderte. Am 11. März 2014 erklärte das Parlament der Krim deren Unabhängigkeit von der Ukraine und beschloss, den Beitritt zur Russischen Föderation zu beantragen, wenn das für den 16. März geplante Referendum den Wunsch der Bevölkerung zum Beitritt ergeben sollte. Bereits am 6. März erklärte allerdings die autonome Regionalregierung den Beitritt, der dann durch das Referendum mit überwältigender Mehrheit bestätigt wurde. Sowohl die hohe Wahlbeteiligung (83,1 Prozent) als auch das Stimmenergebnis (96,7 Prozent) sprechen für einen ungestörten und demokratischen Ablauf des Referendums, obwohl die krimtatarische Bevölkerung das Referendum boykottiert und russische Truppen schon am 2. März die Kontrolle über die Krim übernommen hatten.

 

Dieser Vorgang verstieß eindeutig gegen die Verfassung der Ukraine. Die Initiative der USA, das Verhalten Russlands durch den UN-Sicherheitsrat rügen zu lassen, scheiterte am 15. März am Veto Russlands. Die UN-Generalversammlung verabschiedete jedoch am 27. März eine Resolution, in der das Referendum mit 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen für völkerrechtswidrig und ungültig bezeichnet wurde. Die Resolution ist zwar nicht verbindlich für die Staaten, bringt jedoch ihre überwiegende Ablehnung einseitiger Sezessionen von Teilen eines Staates zum Ausdruck. Die territoriale Unversehrtheit der Staaten ist ihnen wichtiger als das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf das sich Parlament und Regierung der Krim beriefen.

 

 

Das Selbstbestimmungsrecht: Sezession und Grenzen der Selbstbestimmung

Die Ukraine ist ein multiethnischer Staat, der nach der letzten Zählung 2001 77,8 Prozent Ukrainer, 17,3 Prozent Russen und an die 100 andere Ethnien mit jeweils unter einem Prozent der Einwohner umfasst. Das gesamte Volk der Ukraine hat zweifellos ein Selbstbestimmungsrecht, welchem seit seiner Kodifizierung in Art. 1 der beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 zwingende völkerrechtliche Verbindlichkeit zuerkannt wird. Minderheiten hingegen genießen nur einen geringeren Status der Selbstbestimmung, der vor allem im Schutz ihrer Identität vor Diskriminierung und Assimilierung und in einer gewissen Förderung durch den Staat besteht. Ein Recht auf Sezession ist darin nicht enthalten. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition der Minderheit, aber die Ukraine hat als Mitglied der »Framework Convention on the Protection of National Minorities« den Russen einen Minderheitenstatus zuerkannt. Ihr hoher Anteil an der Bevölkerung auf der Krim hat der Autonomen Republik allerdings Rechte weitgehender Selbstverwaltung und Selbstständigkeit verliehen, die weit über den Schutz einer bloßen Minderheit hinausgehen.

 

Entscheidende politische Bedeutung hat das Selbstbestimmungsrecht in den siebziger Jahren mit den antikolonialen Befreiungskriegen vor allem in Afrika erlangt. Die Befreiungsbewegungen wurden als legitime Repräsentanten ihres Volkes anerkannt. Als zentrale rechtliche Grundlage verschaffte das Recht auf Selbstbestimmung ihnen die juristische Legitimation für ihren Kampf gegen die Kolonialherren. Gleichzeitig gestand es ihnen das Recht auf Sezession zu, um einen eigenen unabhängigen Staat zu bilden. Bis zum Ende der Dekolonisation erfüllte sich das Selbstbestimmungsrecht in der Sezession, der Trennung von der alten Kolonialmacht. Aber schon 1964 hat die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) sich zu dem Grundsatz bekannt, dass den Völkern das Zusammenleben in den alten kolonialen Grenzen zuzumuten sei, wenn sie einmal die Unabhängigkeit von der kolonialen Herrschaft erlangt haben.

 

Ethnische Interessen und das Selbstbestimmungsrecht mussten hinter den Zielen, Grenzstreitigkeiten nicht in Gewalt ausarten zu lassen und den Zerfall von Staaten zu verhindern, zurücktreten. Nur in Situationen, in denen die Rechte eines Volkes dauerhaft und schwerwiegend verletzt werden und ein Autonomiestatus verweigert wird, einem Volk der Verbleib im Staat also nicht mehr zumutbar ist, wird allgemein anerkannt, dass das Selbstbestimmungsrecht auch als Recht auf Sezession wieder auflebt.

 

Dieses trifft jedoch auf die Situation der Russen in der Ukraine nicht zu, selbst wenn die Regierung in Kiew versuchte, die russische Sprache aus dem Rechtsverkehr auszuschließen. Die Unabhängigkeitserklärung des Parlaments auf der Krim und das anschließende Referendum waren auf jeden Fall verfassungswidrig, da sie der territorialen Integrität widersprachen, die in Art 17 der ukrainischen Verfassung von 1996 kodifiziert ist. Schon zwei Jahre zuvor hatte Russland, gemeinsam mit den USA, Großbritannien und anderen Staaten, der Ukraine im sogenannten Budapester Memorandum von 1994 die Achtung ihrer Souveränität und Garantie ihrer territorialen Integrität sowie politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zugesichert. Dies war die Gegenleistung für den Verzicht der Ukraine auf Nuklearwaffen. Zudem enthält die Verfassung keine Ermächtigung für ein Referendum mit derart umfassenden und für das Territorium der Ukraine einschneidenden Folgen, lediglich regionale Fragen können gem. Art. 138 Gegenstand eines Referendums sein.

 

Trotz einer Unabhängigkeitserklärung und eines über 90-prozentigen Referendums verwandelte sich die Krim also noch nicht in eine unabhängige »Republik Krim«, sondern verblieb weiter als »Autonome Republik« im ukrainischen Staatsverband. Erst durch die Eingliederung in die Russische Föderation wurde die Sezession vollzogen und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine verletzt.

 

Russland hatte bereits am 17. März 2014 die imaginäre »Republik Krim« anerkannt und durch einen Vertrag am 18. März 2014 in seine Föderation aufgenommen. Überwiegend wird das Verhalten der Russen als völkerrechtswidrige Annexion gewertet, da insbesondere die Übernahme der Kontrolle auf der Krim durch russische Truppen, die ihre Kasernen auf der Krim verlassen hatten, als völkerrechtswidrige Gewaltanwendung oder zumindest als Drohung mit Gewalt gewertet wird, die gemäß Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta ebenfalls verboten ist. Putin rechtfertigt das Handeln der russischen Truppen – ob aus Russland oder aus den Stützpunkten auf der Krim – mit einem Hilfeersuchen des »abgesetzten« und nach Russland geflohenen Präsidenten Janukowitsch. Es spricht vieles dafür, dass zu der Zeit Janukowitsch noch der legitime Präsident war, der nicht einfach seine Stellung durch Flucht aufgegeben hatte, sondern vor dem Putsch der sogenannten Interimsregierung geflohen war. Die nachfolgende Absetzung durch das Parlament war ebenfalls unwirksam, da das für eine solche Entscheidung laut Verfassung notwendige Quorum von 75 Prozent der Stimmen nicht erreicht wurde (72,8 Prozent).

 

 

Schutz der territorialen Integrität

Mag in der Präsenz der russischen Truppen entgegen der vorherrschenden Meinung auch kein Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht gesehen werden, so verletzte jedoch die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation eindeutig die territoriale Unversehrtheit der Ukraine. Das ist zwar keine Annexion, die den Gebietserwerb mit Gewalt definiert, aber auch der Gebietserwerb ohne physische Gewalt verstößt gegen das Völkerrecht, so er nicht von beiden Staaten im Konsens erfolgt. Nicht die Anwendung von Gewalt entscheidet in diesem Fall über die Völkerrechtswidrigkeit, sondern die Verletzung der territorialen Integrität.

 

Dass diese Regelung sinnvoll ist und dem Friedensauftrag des Völkerrechts entspricht, zeigen die zahlreichen Sezessionsbestrebungen in der Welt, ob der Basken und Katalanen in Spanien, der Einwohner von Quebec in Kanada, der Schotten oder ehemals der Kurden. Sollte ihnen die Möglichkeit einseitiger Trennung aus ihren Staatsverbänden gegeben werden, würde eine Büchse der Pandora geöffnet, vor der schon Putin anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gewarnt hatte. Dass er nun selbst in sie gegriffen hat, mag vor dem Hintergrund einer aggressiven Einkreisungs- und Eindämmungsstrategie der USA und EU verständlich sein und zur Rettung des Stützpunktes für die Schwarzmeerflotte in Sewastopol sogar für legitim gehalten werden. Auch diese Intervention war defensiv, aber die strenge Grenze der Legalität darf damit nicht überschritten werden.

 

Doch wem gehört nun die Krim? Juristisch ist sie immer noch Teil der Ukraine, faktisch aber Teil der Russischen Föderation. Dort wird sie auch bleiben, denn weder will die Mehrheit der Bevölkerung zurück in die Ukraine noch wird Putin sie im Gedenken an seinen Vorgänger Chruschtschow noch einmal der Ukraine schenken. Das wird für eine gewisse Zeit schwierige diplomatische und juristische Verwicklungen mit sich bringen, denn die ukrainische Regierung wird diesen Zustand nicht akzeptieren. Es wird Restitutions- und Entschädigungsklagen geben, die konsularischen und Visa-Probleme werden sich nicht nur auf die beiden Parteien beschränken, sondern auch die Staaten erfassen, die Wirtschafts-, Handels-, Kultur- oder touristische Beziehungen zur Krim und ihren Bürgerinnen und Bürgern haben. Die Zeit wird allerdings das bewirken, was die »normative Kraft des Faktischen« genannt wird – und dies wird hoffentlich nicht allzu lange dauern. Letztlich wird also das Selbstbestimmungsrecht über das Recht auf territoriale Integrität siegen, ein Sieg, der allerdings den beschrittenen Weg nicht nachträglich rechtfertigt.

 

 

Der Text basiert auf der Rede Norman Paechs anlässlich der Ossietzky-Matinee am 3. Oktober. Norman Paech ist Jurist und emeritierter Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion.